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Von Marianne Birthler zu Roland Jahn

Joachim Gauck und Marianne Birthler haben die Stasi-Unterlagen-Behörde geprägt. In den vergangenen beiden Jahrzehnten trug sie wie selbstverständlich ihren Namen. Nachfolger im Amt wird nun Roland Jahn.

Von Otto Langels | 13.03.2011
    "Wir kommen nun zum Ergebnis der Abstimmung der Wahl des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Mit Ja haben gestimmt: 535 Abgeordnete. Mit Nein haben gestimmt: 21 Abgeordnete, Enthaltungen: 21. Herr Roland Jahn hat damit die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen erreicht. Er ist damit zum Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR gewählt. Alles, alles Gute."

    Am 28. Januar wählte der Deutsche Bundestag den Journalisten Roland Jahn mit großer Mehrheit zum vermutlich letzten Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Dabei erhielt er Stimmen aus allen Fraktionen, auch aus den Reihen der Linken; ein in der bundesdeutschen Politik eher seltenes Phänomen, dass ein öffentliches Amt vom üblichen parteipolitischen Gezänk verschont bleibt. Morgen wird Jahn offiziell in sein Amt eingeführt. Die beiden Vorgänger, Joachim Gauck und Marianne Birthler, haben die Stasi-Unterlagen-Behörde so nachhaltig geprägt, dass die Einrichtung in den vergangenen beiden Jahrzehnten wie selbstverständlich ihren Namen trug. Wird also demnächst auf die Gauck- und Birthler-Behörde die Jahn-Behörde folgen?

    "Es geht nicht nur um das Schicksal von 17 Millionen DDR-Bürgern, sondern es geht mit diesem gesamteuropäischen Thema auch über den prinzipiellen Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie."

    Erklärte Bundestagspräsident Norbert Lammert anlässlich der Wahl Roland Jahns und wandte sich dann an die auf der Besuchertribüne des Reichstags neben Jahn sitzende Marianne Birthler.
    "Als DDR-Bürgerrechtlerin haben Sie großen Wert darauf gelegt, dass in den Stasi-Akten nicht nur die Rede davon ist, was Menschen einander antun, sondern auch, wie großartig sich Menschen selbst unter den Bedingungen einer Diktatur verhalten können."

    In letzter Zeit war es um die Birthler-Behörde ruhig geworden. Der Streit um die Stasi-Unterlagen Helmut Kohls hatte vor knapp zehn Jahren für Schlagzeilen gesorgt, als der Altkanzler sich vor Gericht gegen eine Einsichtnahme in seine Akten durch Außenstehende wehrte. Aufsehen erregte dann noch einmal die Enttarnung des West-Berliner Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras als Stasi-Spitzel, denn Kurras hatte am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen und damit die Protestbewegung der außerparlamentarischen Opposition mit ausgelöst. Aber ansonsten verrichtete die BSTU, so die Abkürzung der Behörde, relativ geräuschlos die ihr gestellten Aufgaben: den Opfern Einsicht in die über sie gesammelten Unterlagen des DDR-Geheimdienstes zu gewähren; Wissenschaftlern und Journalisten Dokumente aus den insgesamt 110 Kilometern laufenden Akten vorzulegen; Personen in herausgehobenen Funktionen und öffentlichen Ämtern auf eine frühere Tätigkeit als Stasi-IM zu überprüfen sowie politische Bildungsarbeit über den Unterdrückungsapparat des SED-Regimes zu leisten. Marianne Birthler über ihre Amtszeit:

    "Die Überraschung dieser zehn Jahre war, dass die Nachfrage nach den Unterlagen nicht nachlässt von Jahr zu Jahr, sondern gleichmäßig stark ist, sogar wieder angestiegen ist. Rund gerechnet haben 1,7 Millionen Menschen inzwischen einen Antrag auf persönliche Akteneinsicht gestellt. Also diese Fantasien von einem Schlussstrich werden dadurch widerlegt. Jeder einzelne Antrag, der bei uns eingeht, ist ein Nein zum Schweigen."

    Angesichts des unvermindert großen Andrangs - allein im vergangenen Jahr wollten rund 85.000 Personen ihre Akten einsehen - müssen die Antragsteller mit Wartezeiten bis zu zwei Jahren rechnen, da die BSTU mit knapp 1800 Mitarbeitern nur noch über gut die Hälfte des ursprünglichen Personals verfügt. Mit einem Jahresetat von 100 Millionen Euro ist die BSTU aber nach wie vor eine Mammutbehörde, der Kritiker einen schwerfälligen Arbeitsstil vorwerfen und sie als "Aufarbeitungskombinat" bezeichnen. Seit der Gründung der Behörde vor 20 Jahren wurden zwar 95 Prozent der personenbezogenen Akten erschlossen, aber erst rund die Hälfte der sachbezogenen Unterlagen. Jens Giesecke vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, früher selbst als Wissenschaftler in der Stasi-Behörde tätig, spricht von fehlender Effizienz.
    "Gerade als Historiker muss man feststellen, dass es im Innenleben der Behörde meiner Ansicht nach ein etwas zu großes Maß an Bürokratie gibt, natürlich auch eine Selbstzufriedenheit einer großen Einrichtung, die erst mal besteht und an der relativ wenig geändert werden kann."

    Kann der neue Bundesbeauftragte für frischen Wind sorgen? Roland Jahn hat in den vergangenen 25 Jahren als Journalist für das Politmagazin "Kontraste" des SFB beziehungsweise RBB gearbeitet. Der Sprung von einer kleinen Fernsehredaktion an die Spitze einer riesigen Behörde ist gewaltig. Jens Giesecke ist skeptisch, ob Jahn den schwerfälligen Apparat souverän leiten und ihm ein eigenes Profil aufdrücken kann.
    "Roland Jahn ist, bei allen Qualitäten, die er hat, er ist kein erfahrener Verwaltungsmensch. Er wird sicherlich sehr viel Lehrgeld zahlen müssen, wenn er sich mit einer 1800-Mann-Behörde auseinandersetzen muss. Und vor dem Hintergrund, dass Frau Birthler etwa als ehemalige Ministerin in zehn Jahren da auch relativ wenige Fortschritte erreicht hat, ist nicht anzunehmen, dass sich an den grundlegenden Defiziten viel tun wird."
    "Ich bin ein Teamplayer."
    Sagt dazu Roland Jahn.
    "Schon als Kind beim Fußball habe ich gelernt, mit der Mannschaft zu spielen. Auch als Journalist lernt man sozusagen, im Team zu arbeiten. Und das ist mir wichtig, deutlich zu machen, dass wir nur gemeinsam hier Aufarbeitung leisten können, dass es nicht auf einen Bundesbeauftragten nur ankommt, sondern dass man sozusagen mit vielen, vielen Leuten hier das Thema voranbringt."

    Roland Jahn, 1953 in Jena geboren, wurde als Dissident von der Stasi festgenommen und 1983 gewaltsam in die Bundesrepublik abgeschoben. Als Journalist hat er sich in zahlreichen Fernsehbeiträgen mit der SED-Diktatur auseinandergesetzt und zugleich von West-Berlin aus DDR-Oppositionelle mit Geld, verbotenen Büchern, Flugblättern und Druckmaschinen unterstützt. Zum ersten Mal komme jemand mit einer geteilten Ost-West-Biografie in dieses Amt, sagt die CDU-Bundestagsabgeordnete Beatrix Philipp, in ihrer Fraktion zuständig für die Stasi-Akten.
    "Er ist eine Persönlichkeit, die aus der Bürgerbewegung kommend, Detailwissen besitzend und der – wie er selbst von sich sagt - eine geteilte Biografie hat, eine DDR-Biografie und eine bundesrepublikanische, dass das also ihm gestattet, noch mal andere Akzente zu setzen und auch ein wenig darauf hinzuwirken, differenzierter zu gucken, auch bei IMs oder bei Stasi-Mitarbeitern zu differenzieren, wie geht man denn mit denen um."

    Differenzierter hinzusehen, könnte auch heißen, sich nicht allein auf die Stasi-Akten zu konzentrieren, sondern auch die Unterlagen westdeutscher Nachrichtendienste heranzuziehen, um ein umfassendes Bild der deutsch-deutschen Vergangenheit zu bekommen. Ein Anfang sei bereits gemacht, meint der SPD-Politiker Wolfgang Thierse, Stasi-Experte der SPD-Fraktion.

    "Ich habe mit Interesse vernommen, dass es einen Forschungsauftrag gibt zur Untersuchung der Geschichte des BND. Da bin ich neugierig, was dabei herauskommt. Und das ist ja ein erster Schritt, auch in einer gewissen Analogie zum Umgang mit der DDR-Geschichte auch bundesdeutsche Geschichte zu bearbeiten."

    Seit Langem beklagen Wissenschaftler und Journalisten, dass ihnen die Stasi-Akten nur unvollständig und zum Teil geschwärzt zur Einsicht vorgelegt werden. Hubertus Knabe, einst Mitarbeiter der Gauck-Behörde und heute Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, ist einer der hartnäckigsten Kritiker der BSTU. Er moniert, dass die Behörde Wissenschaftlern und Journalisten die Arbeit unnötig erschweren würde.
    "Das hängt vor allem damit zusammen, dass das Gesetz, was der Bundestag gemacht hat, so unendlich kompliziert ist, dass Scharen von Sachbearbeitern nur damit beschäftigt sind, dieses Gesetz irgendwie umzusetzen. Wenn ein Forscher eine Akte sehen will, dann muss erst mal ein Mitarbeiter diese Akte sich anschauen, sie kopieren, alle möglichen Namen rausstreichen, sich bei jedem Namen überlegen, ist das eine Person der Zeitgeschichte oder ist das nicht der Fall, also eine unendliche mühsame Arbeit beginnt dann."

    Wer das umständliche Prozedere der BSTU kritisiert und sich Abhilfe vom neuen Bundesbeauftragten erhofft, übersieht freilich, dass es sich um illegal gesammelte Unterlagen eines Geheimdienstes handelt. Diese Papiere seien eben nicht mit anderen historischen Akten vergleichbar, betont Wolfgang Thierse.

    "Dass die Behörde sehr sorgfältig mit den Akten umgehen muss, das verlangt das Gesetz, weil diese Akten rechtsstaatswidrig zustande gekommen sind. Es muss Rücksicht genommen werden auf die Persönlichkeitsrechte Betroffener, deswegen Schwärzen. Das sind andere Akten, als sie sonst im Bundesarchiv sind."

    Der oder die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen befindet sich in einem Dilemma. Wer an der Spitze der BSTU steht, soll gleichermaßen den schutzwürdigen Interessen der Opfer wie den Begehrlichkeiten der Wissenschaftler und Journalisten gerecht werden. Roland Jahn hält sich mit programmatischen Äußerungen zurück, solange er das Amt noch nicht übernommen hat. Doch er gibt zu verstehen, dass er sich vor allem als Anwalt der Opfer sieht.
    "Ich denke, gerade beim Thema Aufarbeitung stehen die Opfer immer an erster Stelle, dass wir den Opfern ihre Würde zurückgeben. Und schon die persönliche Akteneinsicht ist so eine Sache, wo die Opfer doch zu ihrer eigenen Biografie wiederfinden. Wenn jemand von der Uni geflogen ist wegen schlechter Leistungen, kann es sein, dass hier die Stasi eingegriffen hatte. Und wenn er in der Akte erfährt, dass es nicht sein Versagen war, sondern das Einwirken der Stasi, dann geht er gestärkt aus dieser Akteneinsicht heraus. Und das ist das Wichtige, dass die Menschen wieder zu ihrer Biografie finden."

    Zu dem Erbe, das Roland Jahn von seinen Vorgängern übernimmt, gehören 16.000 Säcke mit Papierschnipseln; zurückgelassen von Stasi-Offizieren, als sie nach der Wende ihre Amtsstuben fluchtartig räumen mussten. Marianne Birthler:

    "Auf der einen Seite wird es nach wie vor die manuelle Rekonstruktion geben, also wo Menschen gebraucht werden, um Teile von Seiten zusammenzufügen. Und das Zweite ist, dass im Fraunhofer-Institut in Berlin entwickelte System, IT-gestützt diese Akten zu rekonstruieren. Da soll sich mal keiner so sicher sein, dass das alles, was jetzt verloren geglaubt ist, nicht mehr auftaucht."

    In einem Modellprojekt werden zunächst die Papierschnipsel aus 400 Säcken zusammengesetzt. Dann wird der Bundestag über eine weitere Nutzung der kostspieligen Technik entscheiden. Die Rekonstruktion zerrissener Dokumente brachte jüngst die Stasi-Verstrickungen eines Mitarbeiters der BSTU ans Tageslicht. Der oberste Personalratsvertreter der Behörde hatte als 17-Jähriger mit der Stasi zusammengearbeitet, dies aber verschwiegen.

    "Solche Sachverhalte dürfen nach dem Stasi-Unterlagengesetz überhaupt nicht verwendet werden, weil es ist Missbrauch Jugendlicher. Eine ganz andere Frage ist, ob es nicht seine Pflicht gewesen wäre, seine Kollegen darüber zu unterrichten. Aber das steht auf einem anderen Blatt."

    Der Mann ist inzwischen von seinem Posten zurückgetreten. Noch in einem weiteren Fall wurde jetzt bekannt, dass ein Beschäftigter der Birthler-Behörde für die Stasi gespitzelt haben soll. In der BSTU sind außerdem nach wie vor rund 50 ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit beschäftigt, eine Hinterlassenschaft aus der Amtszeit von Joachim Gauck, als man glaubte, auf das Insiderwissen einzelner Stasi-Offiziere nicht verzichten zu können. Eine Hypothek, die Marianne Birthler übernommen hat. Dass es bisher nicht gelungen ist, die fest angestellten Stasi-Leute in andere Behörden zu versetzen, empört Tom Sello von der Robert-Havemann-Gesellschaft, einem Verein, der aus der DDR-Opposition hervorgegangen ist und sich als Anwalt der Stasi-Opfer versteht.

    "Stasi-Leute haben in dieser Behörde nichts zu suchen, von Anfang an nicht und auch jetzt nicht. Auch da erinnere ich an eine Losung: Stasi in die Produktion, hieß es, und nicht: Stasi in die Aktenbehörde. Das ist moralisch nicht gut, und das schadet im Übrigen auch der Behörde. Und die Leute müssen da weg, das ist ganz klar."

    Die Opferverbände erwarten, dass sich Roland Jahn mit Nachdruck dieser Frage annimmt, denn in ihren Augen steht der neue Bundesbeauftragte mit seiner Biografie als DDR-Dissident für eine konsequente Aufarbeitung der ostdeutschen Diktatur.

    "Die Staatssicherheit hat stark in mein Leben eingegriffen. Sie hat mich von der Uni geschmissen, sie hat mich ins Gefängnis gesperrt, und sie hat mich gewaltsam in den Westen abgeschoben, sozusagen aus der Heimat weggebracht. Das ist schon sehr bedeutsam. Und dass ich jetzt die Akten der Stasi verwalten soll, das ist schon eine bedeutende Angelegenheit. Aber ich finde es auch politisch wichtig, denn meine Wahl ist damit ein deutliches Signal gegen das Vergessen und macht deutlich, dass die Aufarbeitung weitergehen soll. Die Täter müssen auch die Karten auf den Tisch legen. Aber das ist genau das, was ich noch vermisse, dass die Täter wirklich zu ihrer Biografie sich bekennen und Verantwortung übernehmen, Verantwortung übernehmen für das, was sie den Menschen angetan haben."

    Seit Jahren wird die Arbeit der BSTU von Forderungen begleitet, sie möglichst bald aufzulösen und die Stasi-Akten in das Bundesarchiv zu überführen. Im Raum steht das Jahr 2019 als magisches Datum, 30 Jahre nach der friedlichen Revolution vom November 1989. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse über die Amtszeit von Roland Jahn:
    "Es ist vermutlich die letzte, weil wir ja damals, als wir diese Behörde geschaffen haben, 1990 mit der Volkskammer-Entscheidung, 1991 im Bundestag, immer der Überzeugung waren, dass wir keine Behörde für die Ewigkeit schaffen wollen und schaffen können. Ich neige dazu, zu sagen, 30 Jahre nach Ende der DDR könnte für diese besondere Institution ein Schluss gekommen sein."

    Entscheidungen sind aber noch nicht gefallen. Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag zunächst nur beschlossen, eine Expertenkommission einzusetzen, die Vorschläge zur künftigen Entwicklung der BSTU machen soll. Die CDU-Abgeordnete Beatrix Philipp:

    "Wir sind auf dem Weg, jedenfalls die Koalitionsfraktionen, eine Perspektivkommission auf die Beine zu stellen, die sich mit den vielleicht veränderten oder zukünftigen Aufgaben der BSTU auseinandersetzt. Diese Perspektivkommission wird vielleicht bis Ende nächsten Jahres arbeiten. Und dann gucken wir mal, was da rauskommt. Da geht es um Menschen, die schwer verletzt worden sind, die traumatisiert worden sind, die zum Teil ein Leben lang nicht mehr richtig auf die Füße kommen. Und da kann ich nicht nur sagen, da machen wir mal ein Archiv oder so, weil wir die Akten von - ich weiß nicht, von welcher Behörde - auch immer ins Archiv schaufeln. Das ist mir zu einfach und wird den Menschen nicht gerecht. Und deswegen habe ich auch Herrn Jahn gesagt, lassen Sie sich nicht immer wieder erzählen, Sie seien ein Abwickler, weiß ich nicht."

    Zu klären ist zum Beispiel die Frage, wer künftig die Einsicht in die Stasi-Akten gewährleisten soll, wenn die Zahl der Anträge in den nächsten Jahren nicht zurückgeht. Das Bundesarchiv wäre einem entsprechenden Massenandrang nicht gewachsen. Verändert werden müssten auch die gesetzlichen Bestimmungen, wenn die Akten ins Bundesarchiv wandern. Denn das Archivgesetz schreibt andere Sperrfristen und Zugangsbedingungen vor als das Stasi-Unterlagengesetz. Und nicht zuletzt müsste entschieden werden, wer die Aufgaben der politischen Bildung übernimmt. All dies weckt bei anderen Forschungs- und Bildungseinrichtungen Begehrlichkeiten. Sie wollen ein Stück des großen Kuchens BSTU abbekommen und versuchen die Bundestagsabgeordneten davon zu überzeugen, dass die Stasi-Behörde ein Auslaufmodell ist. Neben den fachlichen und finanziellen Überlegungen hat die Auflösung der BSTU aber auch noch eine symbolische Bedeutung. Der Politiker Wolfgang Thierse und der Historiker Jens Giesecke:
    "Die Art und Weise, wie wir Deutschen mit dieser Vergangenheit umgehen, erscheint sehr vielen Ländern in der Welt durchaus als vorbildlich, und zwar nicht nur den ehemals kommunistischen Ländern Osteuropas und Ostmitteleuropas, sondern auch vielen anderen Ländern, die eine Diktatur-Vergangenheit haben. Ich war in Guatemala, Nicaragua, Chile, Argentinien, in Kambodscha, wo alle gesehen haben, Donnerwetter, wie ihr Deutschen das gemacht habt, mit welcher Gründlichkeit, mit welcher Differenziertheit, mit welchem Aufwand an Ehrlichkeit, das ist schon beispielhaft."

    "Diese Behörde, die ja auch ein Symbol der demokratischen Revolution war und ist, die auch eine Ausstrahlungskraft nach ganz Osteuropa hat, wo man zum Teil 15 Jahre gekämpft hat, um eine Behörde zu kriegen, dass die jetzt geschlossen werden soll, da werden die Wellen meiner Ansicht nach noch mal hochschlagen, und die Gefahr, dass das ein später Sieg für die ist, die 1990 schon nicht wollten, dass diese Akten erhalten bleiben, die wird auf einmal viel stärker wieder ins Bewusstsein rücken, als das derzeit der Fall ist. Und insofern wage ich die Prognose, dass das Schicksal der Behörde auch für 2019 noch nicht entschieden ist."

    Die Amtszeit des ersten Bundesbeauftragten Joachim Gauck stand im Zeichen der Öffnung der Archive und der Enttarnung von Stasi-Spitzeln. Seine Nachfolgerin Marianne Birthler lenkte den Blick auf die DDR-Bürger, die sich einer Tätigkeit als Stasi-IM verweigerten. Roland Jahn will sich dem Gesamtsystem Diktatur widmen: Wie wurde jemand zum Täter oder Opfer, wie funktionierte das Wechselspiel zwischen SED und Staatssicherheit, wie verlief der Alltag in einer Diktatur zwischen Repression, Anpassung und Widerstand?
    "Hier geht es um die Aufklärung einer ganzen Diktatur. Je besser wir begreifen, wie diese Diktatur funktioniert hat, desto besser können wir auch hier und heute Demokratie gestalten."