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Von metaphysischer Unruhe umgetrieben

Die Bühnenstücke Georg Büchners (1813-1837) zählen zu den meistgespielten in deutschen Theatern. Der Dichter des Vormärz, der bereits im Alter von 23 Jahren starb, gilt als politischer Revolutionär. Nach einer neuen Studie des Literaturwissenschaftlers Hermann Kurzke hat für Büchner auch das Christentum eine zentrale Rolle gespielt.

Von Georg Magirius | 23.10.2013
    "Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt. Der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin werden."

    Schreibt Georg Büchner 1835 an den Schriftsteller Karl Gutzkow. Als Autor des Revolutionsstücks "Dantons Tod" und der revolutionären Flugschrift "Der Hessische Landbote" wird Büchner bis heute vor allem als politischer Aufrührer verstanden.

    "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!"

    Wegen solcher Sprüche aus dem "Hessischen Landboten" sehen manche Biografen in ihm sogar einen Vertreter des Frühsozialismus.

    "In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden. Wer sind denn die, welche diese Ordnung gemacht haben, und die wachen, diese Ordnung zu erhalten?"

    Und in Dantons Tod heißt es:

    "Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen, nichts, nichts wir selbst!"

    Da verwundert es nicht, dass allgemein angenommen wird, dass der revolutionäre Georg Büchner an Religion nicht interessiert gewesen sei. Der Mainzer Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke kommt allerdings zu einer anderen Einschätzung.

    "Für einen Frühsozialismus im Werk Büchners gibt es nur wenige belastbare Belege, aber ganze Editionen, Biografien und Monografien leben davon, alles zu diesem Phantasma in Beziehung zu setzen."

    Hermann Kurzke sieht dagegen bei Büchner eher das christliche Mitleid mit den Armen statt frühsozialistischer Impulse. In seinem Buch "Georg Büchner -Geschichte eines Genies" schreibt er:

    "Das Werk Büchners ist flächendeckend übersät und durchsetzt mit christlichen Anspielungen, Zitaten, Debatten und Textfragmenten. Seinem Urgestein nach ist das Büchner-Gebirge christlich."

    Freilich habe er, so Kurzke, unter Christentum keine ordnende Kraft verstanden, mit der man das Leben korrekt zu absolvieren habe. Dem bürgerlichen Kirchenchristentum stand Büchner ebenso ablehnend gegenüber wie überhaupt jeder Art satter Bürgerlichkeit:

    "Das Leben der Vornehmen ist wie ein langer Sonntag: Sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigene Sprache."

    Büchner lehnte zwar die bürgerliche Kirchlichkeit ab, aber er orientierte sich am Evangelium, wie Hermann Kurzke herausgefunden haben will:

    "Es ist eine Art Arbeit. Arbeit am Mythos. Arbeit an den Trümmern des Christentums, die er vorfindet in seiner Zeit. Und es ist, glaube ich, ganz gut gewesen, das Christentum zu zertrümmern, um daran weiterzuarbeiten und seine Produktivität wiederzufinden. Um die Sinnqualitäten, die es hat, auch wieder freizusetzen. Und die eben nicht dadurch da sind, dass man Gott nur das Gute, Liebe und Schöne zuschreibt. Das hilft überhaupt zu gar nichts."

    Die Kritik Büchners an der Kirche komme allerdings nicht von außen, sondern mitten aus dem Christentum, davon ist der Hermann Kurzke überzeugt. Denn Büchners Verlobte war die Tochter eines Pfarrers. Und unter seinen Freunden seien Theologen oder Theologiestudenten gewesen, einige gehörten auch zum Kreis um den "Hessischen Landboten" und ein Freund gehörte sogar zu den als widerspenstig angesehen Waldensern. Kurzke schreibt dazu in seiner Büchner-Biografie:

    "Man konnte unter diesen evangelischen Theologen so heterodox sein, dass es wehtat, und war gerade darin Christ."

    Triebkraft für viele von ihnen ist eine durchaus metaphysische Unruhe, wie Georg Büchner sie zum Beispiel in der Auflehnung gegen Gott in seiner Novelle "Lenz" zu Ausdruck bringt.

    "Es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen."

    Büchner war alles andere als ein Kirchenchrist. Er sah das Christentum vor allem aus der Perspektive der so genannten kleinen Leute, die selbst über den Tod hinaus keine Verbesserung erwarteten, wie es in seinem Theaterstück "Woyzeck" deutlich wird:

    "Wir armen Leute, ich glaub, wenn wir in den Himmel kämen, müssten wir donnern helfen."

    Hermann Kurzke sieht in Büchner neben seiner visionären Kraft, seiner Fantasie, Weltkenntnis und Poesie vor allem aber einen göttlichen Funken wirken. Doch Kunzkes These eines christlich inspirierten Georg Büchner stößt nicht nur auf Beifall. Der Theaterwissenschaftler Jörn Etzold von der Ruhruniversität Bochum reagiert reserviert:

    "Dass Büchner ein Autor ist, der im Rahmen des Christentums schreibt, das geht ja gar nicht anders. Wer ist das nicht? Das ist Nietzsche genauso wie Hegel wie Hölderlin wer auch immer: Also wir alle schreiben im Rahmen des Christentums. Und der gesamte Frühsozialismus hat sich entwickelt im Rahmen des Christentums. Das sind schon relativ eigenartige Grenzziehungen."

    Skeptisch ist auch Ariane Martin, Professorin am Deutschen Institut der Universität Mainz und Herausgeberin der bei Reclam veröffentlichten sämtlichen Briefe und Schriften Büchners:

    "Das gehört ja zu unserer Kultur dazu. Wir haben die Bibel im Hintergrund. Aber es ist ein Unterschied, ob man religiöse Bilder künstlerisch verarbeitet - oder ob man glaubt."

    Doch auch Hermann Kurzke macht deutlich, dass er im Blick auf Büchners Werk durchaus von einem ziemlich offenen Begriff des Christlich-Religiösen ausgehe.

    "Dagegen habe ich nichts, wenn das jemand sagt: Ich bin überhaupt gegen eine allzu enge Definition des Religiösen. Für mich ist jeder Mensch religiös, das ist ein Horizont, den man überhaupt nicht entkommen kann. Einfach schon durch die Zeitlichkeit, durch die Todesverfallenheit. Dadurch, dass man in die Welt geworfen wird, ohne danach gefragt zu werden. Jeder macht sich darauf irgendwelche Antworten."

    "Auf der Welt ist kein Bestand, wir müssen alle sterben."

    Heißt es im "Woyzeck". Hermann Kurzke sieht bei Büchner insgesamt eher die Wirksamkeit einer Art Urreligiosität. Wobei der Dichter biblisches Material und christlich-religiöse Bilder einsetzt, um sie mit Gegenwärtigem kreativ zu verbinden.

    "Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er findet und schafft Gestalten, er lässt vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht."

    Dabei zeigt Büchner durchaus auch Sprachwitz:

    "Warum hat Gott den Menschen das Gefühl der Schamhaftigkeit eingeflößt? Damit der Schneider leben kann."

    Und das Lustspiel "Leonce und Lena" mündet in einen kuriosen Traum vom Paradies:

    "Dort legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um eine musikalische Kehle, klassische Leiber und eine commode Religion."

    Büchners Religiosität habe etwas Musikalisches, ungebremst Ästhetisches, meint Hermann Kurzke, und dann sei da auch eine Lust am Obszönen.

    "Das gehört ja auch zu den sehr großen Rätseln, also Büchner als ein Mann, der von der Liebe unglaublich viel verstand, was sehr schwer zu erklären ist: woher eigentlich? Wie kam das eigentlich? Und der diese auch künstlerisch hochrangige Obszönität hat, das gibt es ja, es gibt ordinäre Obszönität, aber es gibt einfach auch superwitzige, pfiffige Obszönität, die man bei Büchner in Dantons Tod hat und wo man eben auch nur schwer sagen kann: Woher kommt es?"

    So sagt Lacroix, ein Freund Dantons, über die Prostituierten:

    "Die Mädels gucken aus den Fenstern, man sollte vorsichtig sein und sie nicht in der Sonne Sitzen lassen. Die Mücken treiben's sonst auf ihren Händen. Das macht Gedanken."

    Und weiter heißt es in Dantons Tod:

    "Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsachen, es ist das nämlich Gefühl, wer am meisten genießt, betet am meisten."

    Auch wenn der Sprachwitz, die Ästhetik oder die Obszönität oft bei Büchner mit religiösen Bildern verbunden sind, ist für seine Religiosität vor allem der Schmerz das Entscheidende. Der Schmerz wird in Dantons Tod zu einem wesentlichen Zug Gottes, der dort als empfindsames Weltauge beschrieben wird, das weint:

    "Wie schimmernde Tränen sind die Sterne durch die Nacht gesprengt, es muss ein großer Jammer in dem Auge sein, von dem sie herabträufelten."

    "Büchner besteht eigentlich auf dem Leiden und auf dem Schmerz des Gekreuzigten, des Leidenden. Und wir sind sozusagen wie Gekreuzigte. Das sagt auch Lena einmal in 'Leonce und Lena': 'Die Welt ist ein gekreuzigter Heiland.' So in dieser Bildlichkeitsebene findet sich enorm viel bei ihm. Und das muss ihm wichtig gewesen sein, den Schmerz nicht zu verraten mit einer vorschnellen Versöhnung. Und aber auch als Christ im Schmerz anwesend zu sein, ist ja etwas Großes. Früher hat man gesagt: Christus helfen, das Leiden zu tragen. Also indem man im Schmerz bei Christus ist, hilft man ihm das Leiden zu tragen. Und das gibt ja gleichzeitig wieder dem Leiden Sinn."

    So lassen sich auch die letzten Worte des 23-jährigen Dichters vor seinem Tod deuten:

    "Wir haben der Schmerzen nicht zu viel, wir haben ihrer zu wenig, denn durch den Schmerz gehen wir zu Gott ein!"