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Von Natur aus böse

Neben Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer ist Jeremias Gotthelf der dritte bedeutende Schweizer Autor des 19. Jahrhunderts. Seine Kritiker sehen ihn ihm den Biedermeier-Autor.

Von Peter Urban-Halle | 07.11.2012
    Aber er hat auch "Wilde, wüste Geschichten" geschrieben, deren Abgründigkeit man ihm gar nicht zugetraut hätte.

    "Der Charakter meiner Gemeinde, der mich zu einer Art von Passivität verurteilte, weckte in mir immer mehr das Bedürfnis, über Volkssachen mich schriftlich auszusprechen, während meiner Natur nichts widerlicher war, als sich ans Schreiben zu setzen."

    Das schreibt Jeremias Gotthelf in seinem Lebenslauf von 1848, der die vorliegende Auswahl kaum bekannter Erzählungen einleitet. Aber ein Pfarrer und eifernder Christ, der nicht nur von der Kanzel, sondern auch in seinen Büchern predigen will – kann das überhaupt gut gehen? Doch Gotthelf, der bürgerlich Albert Bitzius hieß, ist ein Sonderfall. Er ist eben nicht nur Volkserzieher, er ist auch ein großer Schriftsteller. Wie er als Prediger gesprochen haben wird, schreibt er auch als Dichter: maßlos, wuchtig und rücksichtslos. Als hätte er an Friedrich Schlegel gedacht, der in den Athenäumsfragmenten kurz vorher gesagt hatte, "dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide".

    In dem berühmten Brief an seinen Vetter Carl, den der Herausgeber Peter von Matt in seinem Nachwort zitiert, bekennt Gotthelf 1838:

    "Begreife nun, dass ein wildes Leben in mir wogte, von dem niemand Ahnung hatte. Dieses Leben musste sich entweder aufzehren oder losbrechen auf irgendeine Weise. Es tat es in Schrift. So ist mein Schreiben auch gewesen ein Bahnbrechen, ein wildes Umsichschlagen nach allen Seiten hin."

    Gotthelf ruft nicht die literarische Kritik, sondern Gott allein als höchste Instanz über der Dichtung an, wie sein innigster Anhänger, der Germanist Walter Muschg, feststellte. Trotzdem ist er nicht in erster Linie Gotteskrieger, sondern Wortkrieger. Auch wenn er sich wie in dem kurzen Text "Wie man kaputt werden kann" an Johann Peter Hebels moralischen Kalendergeschichten orientiert, ist er gnadenloser in der Pointe. Er sieht das Wort als Waffe, womit er Anklage führen will, mit allen Registern rhetorischer Raffinesse, mit gewaltiger Fantasie, rabenschwarzem Humor und mit einer Komik, die ebenso pessimistisch ist wie sein Menschenbild überhaupt. Über das Gute im Menschen macht er sich keine Illusionen im Gegensatz zu seinem Landsmann Rousseau. Man lese den kurzen Text über das "Erdbeben von Haiti", eine packende und mahnende Beschreibung der Zerstörungen und der Opfer, die noch einmal Opfer werden, und jener, die dann zu Tätern werden, zu Plünderern, Mördern und Vergewaltigern, weil sie die Ohnmacht der andern ausnutzen. Wie recht die Bibel hat, die Gotthelf im Schlusssatz zitiert, dass es nämlich besser sei, "in die Hand Gottes zu fallen als in die Hände der Menschen"!

    Ob der kalte, geizige Hans, der tumbe, eingebildete Benz oder die zänkische, giftige Grimhilde – sie alle sind übermütig, eitel und verstockt. Der Mensch ist von Natur aus böse – was man übrigens in der Bibel nachlesen kann, wenn man sie wörtlich nimmt. Nur wenigen ist Erlösung vergönnt, allerdings erst nach kathartischen Ereignissen, die ihresgleichen suchen. Der größenwahnsinnige, verblendete Kurt von Koppigen zum Beispiel muss erst durch ein veritables Fegefeuer gehen, er wird Gejagter einer Wilden Jagd, ehe er bekehrt wird.

    "War Kurt zum Schwein, war er zum Hirsch geworden, er wusste es nicht, aber die Haare alle auf seinem Felle sträubten sich, und jedes Haar ward zu einem Auge, und jedes der tausend Augen schickte ihm Höllenpein und Todesangst ins Herz hinein. Jedes dieser Augen sah eigene Greuel, besondere Schrecknisse, jedes schnürte das Herz in unsäglicher Angst, jedes trieb zu schnellerem Laufe."

    Szenen unerträglicher Grausamkeit, zuweilen an Hieronymus Bosch erinnernd, bietet die so idyllisch anhebende Erzählung "Die Rotentaler Herren", die hundert Jahre unter Verschluss gehalten wurde, eine harsche Kritik der Schweizer Geschichte. Ein ergrauter Bauer erzählt beim Glühen des Pfeifchens und der Alpen die Volkssage von den Rotentaler Riesen, die einst mit unsäglichem Sadismus über die Welt herrschten.

    "Was laufen konnte, trieben sie fort, was es nicht konnte, blieb liegen. Kinder wanden im Laube sich nach ihrer Mutter Brust, Greise wimmerten verlassen in Büschen und Sümpfen nach Hülfe. ( ... ) Noch manches matt gewordene Kind ließen die Riesen liegen oder zertraten es, und manche Mutter, die ans matte Kind sich klammerte, warfen sie samt dem Kinde in die Schlünde. ( ... ) Ein Würgen und ein Schreien war da, wie es die Erde nie gesehen, und eine Lust strömte durch die Riesen, wie sie noch keine gefühlt."

    Das Dahinmetzeln von allem, was sich bewegt, die Erregung beim Morden, den Blutrausch – wir kennen Berichte darüber seit der Antike. Doch wurde es selten so erschütternd beschrieben wie hier von Gotthelf. Er warnt vor der materialistischen Zukunft, ohne die Vergangenheit zu verklären, er wünscht sich die gottesfürchtige Idylle und weiß doch genau, dass sie nie kommen wird, weil die Menschen nicht so sind. Und er schreibt seine abgründigen Texte mit einer Leidenschaft, Farbigkeit und Kraft, die man einem Dichter der Biedermeier-Epoche gar nicht zugetraut hätte.

    Jeremias Gotthelf: Wilde, wüste Geschichten
    Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter von Matt
    Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2012
    253 Seiten, 19,90 Euro