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Von Propaganda, Fanatismus und Realitätsverlust

1978 reisten vier schwedische Intellektuelle ins Land der Roten Khmer. Trotz Massenmord und Zwangsarbeit verfassten sie optimistische Reiseberichte. Peter Fröberg Idling ist den Spuren seiner Landsleute nach Kambodscha gefolgt und mischt historische Quellen und gegenwärtige Beobachtungen zu einer vielschichtigen Reportage.

Von Sabine Peters | 06.05.2013
    Kambodscha 1978: Die Roten Khmer unter Pol Pot sind dabei, einen an Maos China orientierten kommunistischen Bauernstaat zu schaffen. Die Städter werden zum Reisanbau aufs Land geschickt, an die Stelle von Familie und Religion tritt eine nebulöse Organisation, an deren Spitze namenlose Schattenfiguren agieren. Pol Pot trägt den Namen "Bruder Nummer eins". Das Ausland erfährt nur über den offiziellen staatlichen Radiosender oder über Flüchtlingsaussagen etwas von den Zuständen im Landesinneren. Man hört also entweder enthusiastische Berichte über Fortschritte bei den Bewässerungsanlagen, über gesteigerte Ernten und erfolgreiche Staudamm-Projekte. Oder aber von Hunger, Zwangsarbeit und Massenmord. Pol Pot lässt linksstehende ausländische Delegationen einladen, damit sie selbst sich ein Bild machen können. So kommt es 1978 auch zu einem vierzehntägigen Besuch von vier schwedischen Aktivisten.

    Peter Fröberg Idling wurde 1972 geboren, und er beginnt sein Buch "Pol Pots Lächeln" mit der Reflexion von zeitlichen und räumlichen Distanzen: Er selbst lag noch im Kinderwagen, als auch in Schweden eine Bewegung gegen die amerikanischen Bombardierungen auf Kambodscha, gegen die Kriege in Südostasien entstanden war. Als Erwachsener reist er Anfang des neuen Jahrhunderts selbst auf den Spuren seiner Landsleute nach Kambodscha. Er will sehen, was sie seinerzeit sahen; und er will sich einen Eindruck des heutigen Landes verschaffen.

    "Pol Pots Lächeln" ist eine dokumentarische Reportage mit literarischen Zügen. Historische Quellen, gegenwärtige Beobachtungen, Interviews mit einheimischen Bauern und früheren politischen Funktionären sowie Gespräche mit den Teilnehmern der damaligen schwedischen Reisedelegation ergänzen und widersprechen sich. Fröberg Idling mutet alles, was er selbst erlebt hat, also stark voneinander abweichende Informationen, vergebliche Anfragen, Leerstellen und Zweifel auch den Lesern zu. Er geht nicht chronologisch vor, und er mischt historische, psychologische und soziologische Deutungen der Pol-Pot-Ära. Die Lektüre seines klugen und vielschichtigen Buchs ist zwar mühsam, aber dennoch faszinierend; man begreift einmal mehr, dass Geschichte nie ein lückenloses, abgerundetes Ganzes ist.

    Was hatte eine schwedische "Freundschaftsgesellschaft" Ende der siebziger Jahre in Kambodscha zu suchen? Das politische Klima war weltweit beherrscht vom Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion. Jeder lokale Konflikt in irgendeinem Winkel der Welt konnte globale Folgen haben. Die Bewunderung der Westeuropäer für den Anteil der Amerikaner an der Befreiung vom Faschismus wurde von der Kritik an ihrer aggressiven Politik in Südostasien überlagert. Aber viele Linke übten ebenso scharfe Kritik an der Sowjetunion, und sie solidarisierten sich mit diversen Befreiungsbewegungen Asiens, Lateinamerikas und Afrikas. 1975 hatten Mosambik, Osttimor, Surinam und Angola ihre Unabhängigkeit erklärt; alles war in Bewegung und man hoffte, die ehemaligen Kolonien könnten die bipolare Weltordnung unterlaufen. Warum sollten sie nicht ihren eigenen revolutionären Weg gehen? Mit Ungerechtigkeiten und Fehlern musste man Geduld haben: Wann war je eine Revolution friedlich verlaufen? Wann hatte eine herrschende Klasse je freiwillig auf ihre Privilegien verzichtet? Mit solchen Gedanken im Gepäck fuhren die vier schwedischen Aktivisten 1978 nach Kambodscha.

    Fröberg Idling vergleicht ihre lobenden Reiseberichte mit den Tatsachen: Zwangsarbeit, Säuberungen, Folter, Massenmorde. Hatten sich seine Landsleute "der guten Sache zuliebe" selbst etwas vorgemacht, oder wurden sie getäuscht' Beides funktionierte: einerseits Gutgläubigkeit und positive Vorurteile. Andererseits wurden die Gäste natürlich auch an geschönten Kulissen vorbeigeführt; sie mussten sich auf Dolmetscher verlassen; sie wurden durch ein dichtes Reiseprogramm auf subtile Weise desorientiert. Im Verlauf des Buches stellt sich allerdings immer drängender die Frage, wer seinerzeit überhaupt einen Überblick über die Situation im Land hatte und wie die Unterdrückung und der Massenmord an der Bevölkerung hat "funktionieren" können.

    Keine Geschichte ohne Vorgeschichte, oder, wie Marx sinngemäß sagte: Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, sondern unter gegebenen, vorgefundenen Umständen. In diesem Fall: eine hierarchische strukturierte, paternalistische Gesellschaft, in der Gehorsam eine Tugend ist und persönliche Loyalität wichtiger als Gesetze. Eine über viele Jahrhunderte vom Ausland gedemütigte Gesellschaft: Das kambodschanische Territorium war durch Gebietsannektierungen seitens der Nachbarländer Laos, Thailand und Vietnam immer kleiner geworden; hinzu kam die Kolonisierung durch Frankreich.

    Pol Pot, schreibt Fröberg Idling, war in erster Linie Kambodschaner, und dann erst Kommunist – mit Internationalismus hatten er, hatte die von ihm zunehmend dominierte Guerilla der Roten Khmer nichts im Sinn. Die fand zunächst, als die amerikanische Bombardierung Vietnams auch auf das neutrale Kambodscha ausgeweitet wurde, viele Anhänger in der Bevölkerung. Als Pol Pot 1975 die Macht übernahm, war die Infrastruktur des Landes weitgehend zerstört. Städte lagen in Trümmern, Anbaugebiete standen ungenutzt; alles musste gleichzeitig in Angriff genommen werden. Der "große Sprung nach vorn" wurde zu einem kompromisslos durchgeführten, rein voluntaristischen Akt, bei dem man sich nicht mehr um die Realität scherte, etwa um lokale Gegebenheiten. Für Pol Pot gab es beispielsweise keine Missernten, sondern es musste "Verrat" geübt worden sein.

    Desorientierung, Fatalismus und Unterwürfigkeit; ein selbst die Kinder umfassendes allgemeines Denunziantentum; Intellektuellenfeindlichkeit, Irrealismus, grauenhafte Inkompetenz, unsägliche Brutalität und Terror – all das zusammen machte Kambodscha aus, als die Schweden 1978 anreisten. Als sie Schulen und Krankenhäuser bewunderten. Jahrzehnte später hört Fröberg Idling von einem der früheren kambodschanischen Funktionäre, nicht einmal seinesgleichen habe sich ein genaues Bild der Lage machen können. Dass in einer der fruchtbarsten Regionen offensichtlich Unterernährung herrschte, und dass Menschen verschwanden, konnte er sich nicht erklären – als Anhänger der Revolution sei es ihm unbegreiflich gewesen, warum man die eigene Bevölkerung massakrieren sollte.

    Ein der Sympathie mit Pol Pot unverdächtiger, langjähriger amerikanischer Korrespondent erklärt Fröberg Idling, der Informationsfluss zwischen oben und unten sei blockiert gewesen. Aus Misstrauen "der" Intelligenz gegenüber wurden oft analphabetische lokale Führer eingesetzt; die Zahlen und Berichte, die sie den ranghöheren Führern vorlegten, waren geschönt und spiegelten Erwartungen wider, keine Tatsachen. Denn wer in den weitgehend selbstverwalteten Zonen das Planziel nicht erreichte, lebte gefährlich. Und schließlich war es "draußen", im Ausland, eben auch nicht klar, ob man den einzelnen Flüchtlingsberichten über Gräueltaten trauen durfte, wie viel Antikommunismus bei den Nachrichten eine Rolle spielte.

    Die Gespräche, die Fröberg Idling mit den vier schwedischen Aktivisten führt, fallen ganz unterschiedlich aus. Der eine weigert sich bis heute, sich mit der eigenen Verblendung auseinanderzusetzen. Eine andere Teilnehmerin hatte schon vor der Reise ihre Skrupel formuliert, später schreibt sie dem Autor von ihrer Trauer darüber, wie sich Unterdrückte zu Unterdrückern wandeln.

    "Pol Pots Lächeln" ist keine überlegene Abrechnung eines Jüngeren mit der Generation der 68er. Der Autor fragt sich einmal: Was wissen wir derzeit über die Zustände in der globalisierten Welt, was sind wir bereit wahrzunehmen, ziehen wir überhaupt Folgerungen, wie nutzen wir die Handlungsspielräume? Aber auch diese individuelle moralische Frage bleibt offen.

    In Kambodscha selbst wurden die noch lebenden obersten Funktionäre der Roten Khmer erst 2007 wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt. Der Prozess könnte, so Fröberg Idling, zur Volksaufklärung und Traumabewältigung beitragen.

    Sein eigenes Buch wirft Fragen auf, die über Pol Pots Kambodscha und über die schwedische Freundschaftsdelegation hinausreichen; die sich bis heute stellen: Gibt es eine unvoreingenommene Wahrnehmung, und wo liegen die Grenzen der Solidarität? Die "vorgefundenen historischen Umstände" verengen den Wahrnehmungs- und Handlungsspielraum. "Vorgefundene Umstände" stellen sich, bildhaft gesagt, nur allzu oft dar wie ein Schachspiel, bei dem es lediglich zwei Seiten gibt. Aber ist Politik ein Spiel, bei dem man sich für eine Seite zu entscheiden hat?

    Fröberg Idling zeigt: Selbst in einem scheinbar so übersichtlichen Fall wie der Pol-Pot-Ära ist vieles mehrdeutig. Daher geht es ihm zwar darum, die Verantwortung der politischen Führung zu zeigen, aber er dämonisiert Pol Pot und seine Funktionäre nicht. Die Bruchstücke, mit denen er seine Leser konfrontiert, erklären einem viel über Fanatismus und Realitätsverlust, über die katastrophalen Folgen eines Primats der Theorie über die Praxis. Und doch kann auch seine nachdenkenswerte und unorthodoxe Analyse nicht vollständig sein. Gegen Ende zitiert der Autor die Frage eines Kambodschaners, die er von vielen Seiten in ihrer ganzen Hilflosigkeit immer wieder hörte: "Warum haben sie uns getötet?" Diese Frage weist darauf hin: Auch an diesem historischen Terror bleibt etwas unbegreifbar. Es bleibt ein schreiender Rest.

    Peter Fröberg Idling: Pol Pots Lächeln. Eine schwedische Reise durch das Kambodscha der Roten Khmer.
    Aus dem Schwedischen von Andrea Fredriksson-Zederbauer
    Edition Büchergilde, 352 Seiten, 22,95 Euro