Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Von spielerisch bis kämpferisch

Mit seinen "Nautilus Flugschriften" sorgt Lutz Schulenburg für Aufmerksamkeit im Meer der Neuerscheinungen: starke, kurze Texte, die Bezug nehmen auf aktuelle gesellschaftliche Phänomene. Sie wollen unkonventionelle Denkansätze und gelebte Alternativen vorstellen.

Von Annette Brüggemann | 28.02.2013
    "Wir erleben um uns herum eine Welt in Aufruhr und in Bewegung. Menschen fragen sich, wie sie leben können, wovon sie leben können und welche Wege es gibt, um dem "Dilemma" des immer Gleichen zu entgehen, also Alternativen sind gefragt. Das ist etwas, was für mich sehr wichtig ist, dass man zeigt: Es gibt andere Wege, andere Möglichkeiten, eine andere Praxis, eine andere Lebensform. Und das sollte sich auch in den 'Flugschriften' niederschlagen. Es sollte mehr etwas sein, was auch anregt, als nur so bestätigt."

    Mit seinen "Nautilus Flugschriften" sorgt Lutz Schulenburg für Aufmerksamkeit im Meer von Neuerscheinungen: starke, kurze Texte, die Bezug nehmen auf aktuelle gesellschaftliche Phänomene und Ereignisse. Mit ihnen möchte Lutz Schulenburg einen Möglichkeitsraum öffnen, unkonventionelle Denkansätze und gelebte Alternativen vorstellen – von spielerisch bis kämpferisch ist alles erlaubt.

    Der Name der Reihe legt den Vergleich zum fiktiven Unterseeboot "Nautilus" nah. In Jules Vernes Roman "Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer" sticht es mit Kapitän Nemo und Aussteigern aus der irdischen Welt in See. Über vier Einstiegsluken verfügt die unterseeische Forschungsstation "Nautilus". Und auch über vier Fenster auf der Kommandobrücke - eins für jede Himmelsrichtung.

    Und so fügt es sich, dass vor allem vier Bücher aus den über zwanzig "Nautilus Flugschriften" aufgrund ihrer gesellschaftlichen Brisanz hervorstechen: das kontrovers diskutierte Pamphlet "Der kommende Aufstand" des "Unsichtbaren Komitees"; Laurie Pennys viel besprochenes Buch "Fleischmarkt"; das brandaktuelle "Pussy Riot – ein Punkgebet für Freiheit" und der zeitlose Sammelband "Anarchistische Welten", herausgegeben von Ilija Trojanow.

    Brennende Autos in der Banlieue von Paris im Herbst 2005 haben zum Entstehen des politischen Essays "Der kommende Aufstand" geführt. Das anonyme Autorenkollektiv "Unsichtbares Komitee" sah in den spontanen Jugendrevolten "Symptome des Zusammenbruchs der westlichen Demokratien" und rief zu einem radikalen Ausstieg aus dem bestehenden System auf.

    2007 erschien "Der kommende Aufstand" in Frankreich und hat sich im Internet wie ein Lauffeuer verbreitet.

    2010 als "Nautilus Flugschrift" publiziert, hat "Der kommende Aufstand" - mit Blick nach Spanien - an Aktualität nicht verloren:

    Es ist nunmehr allgemein bekannt, dass Krisensituationen lauter Gelegenheiten sind, die der Herrschaft dargeboten werden, sich umzustrukturieren. Man wird uns nicht noch einmal mit der Krise reinlegen, mit dem "Wir werden wieder bei Null anfangen", und "Wir müssen nur eine Zeit lang den Gürtel enger schnallen". Ehrlich gesagt, löst die Ankündigung der verheerenden Arbeitslosenzahlen bei uns überhaupt kein Gefühl aus.

    Man würde uns gern hinter dem Staat sehen, mobilisiert und solidarisch mit einem unwahrscheinlichen Zusammenflicken der Gesellschaft. Nur widert es uns derartig an, uns dieser Mobilisierung anzuschließen, dass es gut sein kann, dass wir uns eher dazu entscheiden, den Kapitalismus definitiv zu schlagen.


    Als anarchistisches Ausstiegsszenario schlägt das "Unsichtbare Komitee" eine unendliche Vervielfachung von selbst organisierten Kommunen vor. Um nicht "verwaltbar" zu sein, mahnen sie im Unsichtbaren zu bleiben, bis der richtige Moment zum Umbruch gekommen sei.

    Dieser Linksradikalismus schlägt bisweilen um in einen reaktionären Antimodernismus - gegen dekadente Großstädte, gegen eine globalisierte Beschleunigung und Digitalisierung von Arbeit und Leben. Zu eindimensional und kitschig wirkt das revolutionäre Pathos eines einfachen Lebens in der Kommune auf dem Land, wie es das "Unsichtbare Komitee" vorschlägt. Genau das brachte der jungen Streitschrift die Kritik eines rechten Blickwinkels ein, was wieder einmal zeigt: Extreme liegen dicht beieinander.

    Trotzdem inspiriert "Der kommende Aufstand" mit der bissig-bösen Persiflage eines marktkonformen Menschenbilds:

    Es macht schwindelig, so auf einem Schanghaier Wolkenkratzer das "I AM WHAT I AM" von Reebok thronen zu sehen. Das ist die letzte Opfergabe des Marketings an die Welt, das höchste Entwicklungsstadium der Werbung. Er läuft auf einem Rollband vor dem Spiegel des Fitnesscenters. Sie kommt am Steuer ihres Smart von der Arbeit zurück. Werden sie sich begegnen? Je mehr ich Ich sein will, desto mehr habe ich das Gefühl von Leere. Je mehr ich mich ausdrücke, desto mehr versiege ich. Ich führe, du führst, wir führen unser Ich wie einen stumpfsinnigen Schalter.

    Hier trifft sich die Argumentation des "Unsichtbaren Komitees" mit den Thesen von Laurie Penny. Straight und kompromisslos beschreibt die 26-jährige Bloggerin und Autorin aus England in ihrem populären Buch "Fleischmarkt" die mediale Stilisierung des weiblichen, aber auch männlichen Körpers, die der kapitalistischen Logik von permanenter Sexiness und Verfügbarkeit folgt.

    Laurie Penny meint, die allgegenwärtige Sexualisierung bringe als Kehrseite Lustfeindlichkeit und Prüderie mit sich:

    Wir müssen uns weigern, in den beengenden Sarg des perfekten Funktionierens zu steigen, der für junge Frauen und immer mehr junge Männer bereit steht, und lernen, unsere eigenen Bedürfnisse zu spüren und zu befriedigen. Der weibliche Körper in der westlichen Welt, der überall zur Schau gestellt wird, ist in Wirklichkeit marginalisiert und von der Kultur der monetarisierten Sexualität in Besitz genommen, die uns von unseren authentischen persönlichen und politischen Identitäten entfremdet.

    Laurie Pennys Thesen, 2012 als "Nautilus Flugschrift" erschienen, sind alles andere als neu. Die deutsche Philosophin Ariadne von Schirach prognostizierte bereits 2005 in einem Essay im "Spiegel": Je pornografischer unsere Gesellschaft werde, desto mehr würde sie die Lust an der Fortpflanzung verlieren. 2007 folgte ihr Bestseller "Der Tanz um die Lust" über die zunehmende Sexualisierung und Pornografisierung der Gesellschaft.

    Über fünf Jahre sind seitdem vergangen und für Laurie Penny scheint die Situation unverändert. Das gibt zu denken und macht deutlich, dass es in jeder Generation junge, mutige, weibliche Stimmen braucht, die sich zu Wort melden.

    Die feministische, russische Punkband "Pussy Riot" hat genau das getan. Ein nur 41 Sekunden langer Auftritt rückte sie über Nacht ins Schlaglicht der internationalen Öffentlichkeit. Im zentralen Gotteshaus der Russisch-Orthodoxen Kirche vollführten sie am 21. Februar 2012 vorm Altar ein Punk-Gebet gegen die Allianz von Kirche und Staat. Nach ihrer Aktion entschuldigten sich die Aktivistinnen bei den Gläubigen.

    Dennoch wurden zwei der Pussy Riot-Mitglieder zu jeweils zwei Jahren Arbeitslager verurteilt. Das harsche Urteil hat zu weltweiten Protesten und Reaktionen von Sting über Yoko Ono bis hin zu Barack Obama geführt.
    Die jüngst erschienene "Nautilus Flugschrift" - "Pussy Riot – Ein Punkgebet für Freiheit" – dokumentiert die Gerichtsverhandlungen mit Briefen der Musikerinnen aus dem Untersuchungsgefängnis, ihren Aussagen vor Gericht, den Schlussplädoyers ihrer Verteidiger und den eigenen Schlusserklärungen – so von Nadja Tolokonnikowa, 23 Jahre alt, Mutter einer vierjährigen Tochter:

    Wir waren auf der Suche nach wirklicher Ehrlichkeit und Einfachheit und haben diese Eigenschaften im Punk gefunden. Leidenschaft, totale Ehrlichkeit und Naivität sind Heuchelei, Verlogenheit und falscher Bescheidenheit überlegen. Die benutzt man dazu, Verbrechen zu verschleiern. Die sogenannten Führungspersönlichkeiten unseres Staates stehen mit rechtschaffenen Mienen in der Kathedrale, aufgrund ihrer Arglist aber ist ihre Sünde viel größer als unsere. Wir haben politische Punkauftritte als Reaktion auf eine Regierung veranstaltet, die voller Härte, Verschlossenheit und kastenartiger Hierarchiestrukturen ist. Sie werden derartig durchschaubar dafür eingesetzt, den eigenen korporativen Interessen zu dienen, dass uns schlecht wird, wenn wir russische Luft atmen. Wir lehnen Folgendes kategorisch ab, und das zwingt uns dazu, politisch aktiv zu werden und zu leben.

    Punk war schon immer ein anarchistischer Impuls – rebellisch und freiheitsliebend. "Pussy Riot" hat damit Geschichte geschrieben und ihr Buch "Punkgebet für Freiheit" ist ein eindrückliches Zeitdokument. Gerade weil darin die unterschiedlichen Statements kommentarlos nebeneinander stehen, entlarven sich die verdeckten Mechanismen von Putins Scheindemokratie auf perfide Weise.

    Was es mit der Anarchie auf sich hat und welche Wirkung Anarchie als Philosophie, aber auch direkte Aktion heute noch entfalten kann, will der Sammelband "Anarchistische Welten" illustrieren. Als "Nautilus Flugschrift" herausgegeben von dem Autor, Übersetzer und Publizisten Ilija Trojanow. Für ihn hat das anarchistische Denken eine zeitlose Dimension:

    "Ein Streben nach Alternativen jenseits von Hierarchie, von Unter- und Überordnung, von Oligarchie, das heißt, dass Macht sich in Wirtschaftsinteressen fokussiert, von Über- und Unterordnung im Bereich des Vermögens, der Geschlechter, von der Dominanz einer bestimmten Sprache, das heißt eigentlich Recht und Gerechtigkeit jenseits von Macht und Hierarchie. Das ist natürlich ein sehr hoher Anspruch, aber es ist ein Anspruch, der meiner Ansicht nach mit den allerhöchsten sowohl ethischen als auch politischen Idealen einhergeht."

    Ilija Trojanow hat unterschiedlichste Autoren und Autorinnen eingeladen, über ihr Verständnis von Anarchie zu schreiben. Ohne Schuldenkrise wäre der Anarchismus nicht wieder so populär. Viele von den alten Leitsätzen klingen nach linkem Weltverbessertum, dennoch glaubt Ilija Trojanow, dass anarchistische Ideen auch heute noch helfen können, festgefahrene Denkmuster zu hinterfragen:

    "Es gibt konkrete, aber auch abstrakte Alternativen für fast alle Probleme, denen wir uns gegenüber sehen. Wenn man das anarchistische Denken ernst nimmt, wenn man nicht behauptet, dass Autoren wie Bakunin und Kropotkin und viele andere veraltet sind, wenn man also diese kritische Lektüre vollzieht und eine gewisse Adaption an die Gegenwart leistet, dann sieht man, dass ganz klare Lösungsansätze schon angeboten worden sind."
    "Der kommende Aufstand" vom "Unsichtbaren Komitee", Laurie Pennys "Fleischmarkt", Pussy Riots "Punkgebet für Freiheit" und die "Anarchisten Welten" von Ilija Trojanow wollen aufrütteln.

    Mit ihnen kann man in unterschiedliche Utopien abtauchen - um zur Metapher von Jules Vernes U-Boot "Nautilus" zurück zu kehren – nur deren pragmatische Umsetzbarkeit steht auf einem anderen Blatt.

    Aus unserer deutschen Geschichte heraus wissen wir, dass ein Systemwechsel von vielen Faktoren abhängt. Transformatorische Prozesse entwickeln sich Schritt für Schritt, mit Geduld und Kontinuität. Genau hier begegnen wir der fatalen Schwäche der gegenwärtigen Proteste wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek es formuliert hat: Sie würden zwar eine authentische Wut zum Ausdruck bringen, die allerdings unfähig bleibe, sich in ein selbst minimales positives Programm eines gesellschaftlich-politischen Wandels zu transformieren. Somit würden sie einen Geist der Revolte ohne Revolution zum Ausdruck bringen.

    Ob mit feministischen, kommunistischen oder anarchistischen Ideen – wie die "Nautilus Flugschriften" sie vor Augen führen – sich gesellschaftlich etwas bewegen lässt, hängt letztendlich vom Wunsch und Willen jedes und jeder Einzelnen in einer Demokratie ab.

    Die besprochenen Bände:

    Unsichtbares Komitee: "Der kommende Aufstand".
    Aus dem Französischen von Elmar Schmeda.
    Edition Nautilus 2010, broschiert, 128 Seiten, 9,90 Euro
    ISBN 978-3-89401-732-3

    Laurie Penny: "Fleischmarkt. Weiblicher Körper im Kapitalismus".
    Aus dem Englischen von Susanne von Sümm.
    Edition Nautilus 2012, broschiert, 128 Seiten, 9,90 Euro
    ISBN 978-3-89401-755-2

    Pussy Riot: "Ein Punkgebet für Freiheit".
    Aus dem Englischen von Barbara Häusler. Mit einem Vorwort von Laurie Penny
    Edition Nautilus 2012, broschiert, 128 Seiten, 9,90 Euro
    ISBN 978-3-89401-769-9

    "Anarchistische Welten", hrsg. von Ilija Trojanow.
    Edition Nautilus 2012, broschiert, 224 Seiten, 16 Euro
    ISBN 978-3-89401-764-4