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Von Tutti Frutti zum Dschungelcamp

1984 wurde in Deutschland das Privatfernsehen eingeführt. Seit Anbeginn werden Kommerzialisierung und Quotenorientierung beklagt: Privat-TV sei "Unterschichtenfernsehen", es "verblöde". und "entpolitisiere". Von einer "negativen Kulturrevolution" war die Rede. Mittlerweile werden aber auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender kritisiert.

Von Justin Westhoff | 07.05.2009
    "Das Fernsehen versetzt den Zuschauer in den Zustand einer leichten Hypnose - wunderbar befreit von den Sorgen und Spannungen des Alltags versinkt der Betrachter in eine Welt des Traums."

    Auf diese Weise wurde schon in den 1950er-Jahren geworben. Dabei war damals von Privat-TV in Deutschland nicht die Rede. So gesehen hat der Medienwissenschaftler recht, wenn er den "Untergang des Abendlandes", der bei Einführung des Kommerz-Fernsehens beschworen wurde, grundsätzlich bestreitet.

    "Der Kulturpessimismus in der Kritik am Privatfernsehen ist dann berechtigt, wenn man von Massenmedien überhaupt kulturelle Erbauung erwartet. Aber ich glaube das ist eine vollkommene Verkennung des Mediums. Das Fernsehen war niemals und wird niemals sein ein Medium der Aufklärung, sondern es ist ein Unterhaltungsmedium."

    Eines betont aber auch Professor Norbert Bolz von der TU Berlin:

    "Die Einführung des Privatfernsehens hat das Verhältnis der Deutschen zu den Massenmedien insgesamt radikal verändert."

    Dabei hatte alles so bieder angefangen mit dem Sendestart der Programmgesellschaft für Kabel und Satellitenrundfunk am 1. Januar 1984:

    "Guten Morgen, meine Damen und Herren, Ihnen allen wünscht die PKS ein glückliches und erfolgreiches Neues Jahr. Für die Weiterentwicklung des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland ist dies heute ein ganz besonderer Tag."

    Diesem Tag vorausgegangen waren heftige Auseinandersetzungen. Vor allem konservative Politiker empfanden das öffentlich-rechtliche Fernsehen als "Rotfunk" und betrieben die Einführung einer kommerziellen Konkurrenz. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hingegen fand Privatfernsehen, wörtlich: "gefährlicher als Kernenergie". Auch wenn die SPD bald ihren Widerstand aufgab - sie reihte sich mit ihren Befürchtungen ein in die Tradition von Kulturkritikern. Schon Aldous Huxley hatte in seinem Roman "Schöne Neue Welt" gewarnt vor den Mächtigen,

    die uns mit Informationen überhäufen und die Wahrheit in einem Meer von Belanglosigkeiten untergehen lassen.

    Wohl als Nestor der kritischen Medienbeobachtung konnte Neil Postman gelten, Professor an der Universität von New York. In den USA war das Fernsehen von vorn herein in privater Hand. Und das bedeutete für Postman: reines Showbusiness. Schon 1985 beklagte er in seinem berühmten Werk "Wir amüsieren uns zu Tode":

    Problematisch ist am Fernsehen nicht, dass es uns unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert.

    Der SAT.1-Vorläufer PKS begann allerdings mit "Hochkultur"

    "Den Auftakt unseres Neujahrsprogramms bildet die Feuerwerksmusik von Georg Friedrich Händel. Es spielt für Sie das Münchener Bachorchester unter der Leitung von Karl Richter."

    Das sollte sich bald ändern.

    "Hallo und herzlich willkommen. Wir tun heute etwas, was man in der Öffentlichkeit nicht tut und über das man in der Öffentlichkeit nicht spricht. Es ist schlichtweg ein Pfui-Thema. Wir sprechen über Sex."

    RTL, das als "RTL plus" ebenfalls im Januar 1984 auf Sendung ging, setzte auf Fruchtsymbol-beklebte Brüste. Erotik in jeder Form.

    "Die heißeste Handy-Nummer Deutschlands: Sechs mal die Sechs."

    Es folgten allenthalben Schrei-Shows am Nachmittag, Casting-Wettbewerbe, Tortenschlachten - und Ratespiele en masse.

    Norbert Bolz vergleicht die Anfangszeit von RTL und SAT.1 mit dem, was die öffentlich-rechtlichen Anstalten zuvor dargestellt hatten.

    "Fernsehen war immer auch die Stimme des Meisters, die Stimme der Autorität, und da hat das Privatfernsehen einen vollkommen neuen Ton angeschlagen, einen Ton, der natürlich sofort auch Gegenstand der Kritik wurde, aber es war ein frecher Ton, es war eine vollkommen neue Buntheit, wenn man so will auch Unverantwortlichkeit, und das hat viele Menschen zunächst schockiert, dann fasziniert und ist letztlich zu einem Element des Pluralismus geworden, der heute aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken ist."

    Theodor W. Adorno hingegen, Philosoph und Soziologe, hatte seine Kritik an Massenmedien und ihrer Kommerzialisierung schon 1963 so formuliert: Der Fernsehapparat

    um den Familienangehörige und Freunde, die sich sonst nichts zu sagen wüssten, stumpfsinnig sich versammeln, befriedigt nicht nur eine Begierde, vor der nichts Geistiges bestehen darf, wenn es sich nicht in Besitz verwandelt, sondern vernebelt obendrein die reale Entfremdung zwischen Menschen und zwischen Menschen und Dingen.

    Die Hauptvorwürfe an das kommerzielle Fernsehen zu Beginn und zum Teil noch heute: Es sei geschmacklos, lenke von Missständen ab und diene so der gesellschaftlichen Befriedung.

    "Die Stimmung ist hier gut, das möcht' ich von Euch bestätigt haben."

    Der Medienwissenschaftler:

    "Wenn man von Entpolitisierung der Bevölkerung spricht, unterstellt man, früher seien die Menschen informierter und engagierter gewesen. Davon kann natürlich keine Rede sein. Das gleiche gilt für den guten oder schlechten Geschmack der Menschen. Was sich verändert hat, ist etwas ganz anderes: Geschmacklosigkeit und Unbildung mussten sich früher verstecken. Das Privatfernsehen hat das alles ins Rampenlicht gezerrt, heute darf jeder Dummkopf seine Meinung vor dem Mikrophon kundtun, jeder Trottel kann zum Superstar im Fernsehen werden, und das ist die eigentliche Veränderung."

    Zudem gaukeln zahlreiche Fernsehsendungen vor, sie könnten Menschen konkret in allen Lebenslagen helfen: Ob es um Erziehung oder Schulden geht, um Liebeskummer oder ums Wohnen.

    "Das mehrteilige Bild findet einen wunderbaren Platz über dem neuen Zuhause der Zwerghamster."

    Die Professorin Heidi Möller, Psychologin an der Uni Kassel:

    "Das Fernsehen ist mein Helfer, mein Retter, mein Partner im Leben. Und das Fernsehen benutzt diese projektiven Mechanismen ganz systematisch, "Rufen Sie an, Vera macht's ihnen heile." Diese Moderatoren haben überhaupt keine Konfliktmediationskompetenz, sondern die haben eine Kompetenz, es möglichst drastisch zuzuspitzen. Und ich glaube, dass eine ganze Menge Menschen sich Hilfe suchend an die wenden, aber nicht weil sie so bekloppt sind, sondern weil der Sender ihnen erzählt, 'wir sind für dich da!' Und das ist der Trick, wie man die Quoten erhöht, in dem sie ja auch sagen: 'Sie haben ein Problem - wir lösen es ihnen - und zwar in drei Minuten'."

    Dass dies ebenso eine Illusion ist wie die Vorstellung, Mitmachen im Fernsehsendungen bedeute auch, man könne mit bestimmen, geht dabei unter.

    "Big Brother - Du bist nicht allein."

    Und Shows, bei denen Kandidaten in harten Wettbewerb zueinander treten, sind nicht zufällig seit den 80er-Jahren aufgekommen, als neoliberale Gesellschaftsbilder mehr denn je Ellebogen verlangten.

    Eine weitere Kritik am Kommerz-TV lautet denn auch, die Menschen, die es zu Shows einlade, würden missbraucht. Norbert Bolz dazu:

    "Ich kann mich nicht an dem Jammern über die armen Kandidaten der Privatfernsehshows beteiligen. Alle Leute, die sich hier als Kandidaten andienen, wissen ganz genau, was ihnen blüht. Interessant wäre vielmehr eine ganz andere Frage, was eigentlich Menschen dazu treibt, sich diesen Zumutungen auszusetzen. Und da spielt natürlich Exhibitionismus eine große Rolle, dahinter steckt aber auch, dass immer mehr Menschen Probleme haben, im Alltag Beweise für Ihre eigene Identität zu finden. Und offensichtlich sieht man in diesen jämmerlichen Formaten, die das Privatfernsehen tagtäglich anbietet, doch eine echte Chance, nämlich 'Ich existiere, weil ich im Fernsehen gezeigt werden'."

    Solche Elemente in Privatsendern haben den Entertainer Harald Schmidt veranlasst, nicht ohne Selbstironie von "Unterschichten-Fernsehen" zu sprechen. Das ist nichts für Intellektuelle. Und so mochte Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki auch den Deutschen Fernsehpreis nicht haben:

    "Ich nehme diesen Preis nicht an. Und ich finde es auch schlimm, der Blödsinn, den wir hier zu sehen bekommen haben."

    Aber trifft die Unterscheidung von Arte- oder ARD-Anhängern zu Privatfernseh-Fans so überhaupt zu?

    "Nein, es gucken alle Leute so gut wie Alles; es gibt natürlich kleine Unterschiede zwischen Schichten, und die sind in der Richtung, dass Unterschichtpersonen häufiger das private Fernsehen gucken; die Unterschiede sind aber schwach."

    Der Kölner Soziologe Professor Heiner Meulemann hat die Behauptung untersucht, kommerzielles sei Unterschichten-Fernsehen. Die Entwicklung der Programm-Präferenzen in den letzten 25 Jahren spreche dagegen, dass nur bildungsferne Menschen Privatfernsehen schauen:

    "Diese These bedeutet ja eigentlich, dass die Einführung des privaten Fernsehens dazu geführt hat, dass sich das Publikum gleichsam in zwei Welten aufteilt und das es einen immer stärkeren Zusammenhang gibt, hier das Unterschichtfernsehen, das private, dort das Nicht-Unterschichtfernsehen, das öffentlich rechtliche; mit anderen Worten: Es müsste sich zeigen, dass der Zusammenhang mit der Zeit immer stärker wird, und dann immer mehr so wird, dass jeder zu seinem Lieblingssender geht, und vor allem davon kann nicht die Rede sein; diese Zusammenhänge bleiben gleich."

    Was erwachsene Menschen schauen, sei ihnen selbst zu überlassen. Bedenklich hingegen sei, dass Kinder und Jugendliche mehrere Stunden am Tag vor "der Kiste" sitzen, und das wurde forciert durch die Vielzahl von Anbietern.

    "Es gibt Untersuchungen, die zeigen eine Schädigung, die sich bemerkbar macht letztendlich in unterschiedlichen Schulleistungen, wenn sie mehr Zeit als Jugendlicher am Tag für das Fernsehen oder für Computerspiele verbringen, und zwar ist der triviale Grund, sie haben keine Zeit für die Schulaufgaben, aber hinzu kommt, sie haben sozusagen ihren Kopf mit Dingen vollgestopft und nicht mehr freien Spielraum für ein kreatives Lernen."

    Durch hunderte von Sendern ist "die Glotze" allgegenwärtig geworden. Besorgniserregend ist dabei für den Medienforscher und Philosophen Norbert Bolz der Zwang zur Unterhaltung.

    "Es gibt natürlich auch im Fernsehen noch die eine oder andere anspruchsvolle Sendung, und es gibt auch immer noch überragendes Hörfunkprogramm in bestimmten Sparten. Nein, es geht um etwas ganz anderes: Es geht um die Machtergreifung des Entertainment in allen möglichen Lebensbereichen, und dem kann offensichtlich auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen keinen Riegel mehr vorschieben."

    Denn an ihm wird immer wieder die Kritik laut, es gleiche sich zu sehr den "seichten" Kommerz-Anbietern an - bis hin zu "Telenovelas".

    Leicht haben es die gebührenfinanzierten Sender so oder so nicht, findet der Publizist Harald Martenstein:

    Auch nach 25 Jahren haben die Öffentlich-Rechtlichen keine Antwort auf die private Herausforderung gefunden. Ihre Lage ist schwierig, das stimmt. Werden sie zu populär, wirft man ihnen die Gebühren vor, die sie kassieren. Die Privaten leisten das Gleiche gratis. Werden sie zu elitär, wirft man ihnen ebenfalls die Gebühren vor. Jeder muss zahlen, aber ihr macht nur ein Programm für wenige!

    Der Berliner Medientheoretiker Norbert Bolz sieht es so:

    "Ich teile die Einschätzung, dass das erste und das zweite Programm des deutschen Fernsehens sich immer mehr der Methoden und der Formate bedienen, die wir bisher nur aus dem Privatfernsehen kannten, und das ist in der Tat eine Boulevardisierung, aber für mich ist das eine Notwendigkeit und kein Grund für Kritik. Denn meines Erachtens haben die öffentlich-rechtlichen Sender erkannt, dass sie bestimmte Formate bedienen müssen, wenn sie der Eigengesetzlichkeit ihres Medium nicht flagrant widersprechen wollen, und dass man vor allen Dingen dem Sachverhalt gerecht werden muss, dass die Menschen, die fernsehen, zerstreut sind, dass also Aufmerksamkeit ein Ausnahmezustand vor dem Fernsehgerät ist."

    Dabei hat sich jedoch das Nutzungsverhalten geändert. Es gibt nicht mehr "die" Sendung, bei der die ganze Familie zusammensitzt oder die man für Gespräche am nächsten Morgen am Arbeitsplatz oder in der Schule gesehen haben "muss".

    Aus Sicht der Öffentlich-Rechtlichen könnte der verbissene Konkurrenzkampf mit den mittlerweile machtvollen Privaten eigentlich auch vorbei sein. Bei einer öffentlichen Veranstaltung im März 2009 sagte Peter Boudgoust, Vorsitzender der ARD und Süwestfunk-Indendant:

    "Es gibt den Spruch: 'Konkurrenz belebt das Geschäft', und ich finde, im dualen System haben sich über die Jahre hinweg beide Seiten, die kommerziellen Veranstalter und der öffentlich-rechtliche Rundfunk gegenseitig befruchtet, sie haben neue Ideen auch in das mediale Geschehen eingebracht, und ich glaube, wir haben hier ein qualitativ hoch stehendes Fernsehsystem und gleiches gilt auch für die Hörfunkangebote."

    Dennoch: Im Hinblick auf seriöse Nachrichten bleiben Zweifel an der Kompetenz der Privatfernsehmacher. Oft geht es da mehr Sensationen und Werbung für die eigene Superstarsendung:

    "Hier ist das RTL-Mittagsjournal: Abschied von Jade Goodie. Ihren Kindern zu Liebe hat die zweifache Mutter ihr Sterben öffentlich zur Schau gestellt - Warum jetzt alle Kandidaten erst 'mal die Koffer packen."

    "Die Privaten versuchen verzweifelt, auch in diese Nachrichtensendungen hineinzukommen. Nicht weil ihnen die Nachrichten als solche am Herzen lägen, sondern weil es ganz klar nachweisbar ist, dass die Nachrichten sozusagen das Portal sind für das Abendprogramm. Obwohl genau das in letzter Zeit abbröckelt, es gibt immer mehr Leute, die die öffentlich-rechtlichen Nachrichten gucken und hinterher doch zu den Privaten überwechseln."

    ARD-Chef Boudgoust ist im Hinblick auf die journalistische Führungsrolle der Öffentlich-Rechtlichen bei Informationssendungen gelassen:

    "Wir stehen einfach für Seriosität, wir sind keinen wirtschaftlichen Interessen unterworfen und wir merken das auch, dass gerade in Zeiten der Krise die Leute gezielt dieses Informationsleitmedium einschalten."

    Trotz aller Informationshoheit des öffentlichen Fernsehsystems: Die Frage für die Zukunft lautet womöglich, ob nicht das Fernsehen insgesamt erheblich an Bedeutung verlieren wird. Insbesondere jüngere Menschen befriedigen ihre Bedürfnisse zunehmend aus dem Internet, wo es neben gesicherten Informationen auch reichlich Unsinn gibt. Manche läuten deshalb bereits das Ende des Fernsehens ein. Kurt Beck, nicht nur Ministerpräsident, sondern auch Vorsitzender der Rundfunkkommission der Länder, wandte sich während der erwähnten Podiumsdiskussion gegen allzu großen Pessimismus.

    "Ich bin sicher, Fernsehen und Hörfunk und Printmedien werden ihren Platz behalten, ich erinnere mich, als die Diskussion um eine Ausweitung der Fernsehprogramme kam, da hat man gesagt, na Hörfunk ist jetzt endgültig out, das Gegenteil war richtig. Wir haben das Kino schon mal totgesagt als Unterhaltungsmedium wegen des Fernsehens. Ich bin durchaus zuversichtlich, dass auch dieses neue Medium einen Teil des überzogenen Reizes verlieren wird, und deshalb wir sollten auch nicht zu skeptisch sein."

    Aber auch wenn Fernsehen Bestand haben wird: Bleibt es Quelle verlässlicher Informationen? Professor Christoph Neuberger, Medienwissenschaftler aus Münster:

    "Die Sorge, die ich habe, ist die, dass es zu einer immer stärkeren Spaltung kommen wird: auf der einen Seite ein Discount-Journalismus, billig produziert, auf der anderen Seite der Journalismus als Eliteveranstaltung, und das sich das, diese Art von Journalismus, viele Leute dann nicht mehr leisten können. Deshalb bin ich auch ein Befürworter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, das ist eigentlich die Garantie dafür, dass auch für Jeden Qualitätsjournalismus weiterhin zugänglich sein wird."