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Von unerwartetem Kindersegen bis zum Vier-Generationen-Haus

Rund 130 Millionen Kinotickets sind 2011 verkauft worden. Und die letzten Neustarts des Jahres sind die mexikanisch-spanische Produktion "Und dann der Regen", die Dokumentation "Letter to the Future" über eine kubanische Familie sowie der schwedische Film "Ich reise allein", der unseren Kinokritiker an den erfolgreichsten deutschen Film des Jahres erinnert hat.

Von Jörg Albrecht | 28.12.2011
    Ein achtjähriges Mädchen steht im Treppenflur und eröffnet einem ahnungslosen Mittvierziger, dass es seine Tochter sei. Für die heiter-sentimentale "Plötzlich-Vater"-Geschichte mit dem Titel "Kokowääh" von und mit Til Schweiger haben sich hierzulande Anfang des Jahres über vier Millionen Kinogänger interessiert. Zur selben Zeit lief in den norwegischen Kinos ein ganz ähnlicher Film, der jetzt den Weg nach Deutschland gefunden hat.

    Gratuliere! ... Name des Vaters: Jarle Klepp. ...
    Das kann doch nicht wahr sein. Ich habe mit so vielen Frauen geschlafen. Und was damals gewesen sein soll - daran kann ich mich gar nicht erinnern. Wie viele Kinder habe ich da draußen?


    Vorerst ist es nur Lotte. Das Ergebnis eines One-Night-Stands vor sieben Jahren. Damals war Jarle gerade einmal 17. Mittlerweile studiert er Literaturwissenschaften an der Universität von Bergen, wo er an seiner Dissertation über Marcel Proust schreibt. Eine ganze Woche, so teilt ihm Lottes Mutter per Brief mit, soll sich Jarle um seine kleine Tochter kümmern. Die Freude über die unverhoffte Vaterschaft hält sich in Grenzen. Schließlich könnte es für sieben Tage vorbei sein mit dem wundervollen Studentenleben.

    "Sag mal, was fehlt dir eigentlich, Papa?
    Pass auf, Lotte, mir fehlt überhaupt nichts. ...
    Egal Lotte. Der Grund dafür, weswegen ich gestern erst so spät zu Hause war und auch was getrunken hatte, ist der, dass ich das in Ordnung finde. Das muss manchmal sein. Ich hatte hier ein Leben, bevor du gekommen bist. Und das will ich auch weiter haben.


    Eines will Jarle nämlich auf gar keinen Fall: dass es ihm wie der Hauptfigur aus Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ergeht. Nein - er will seine Zeit nicht verschwenden. Vor allem nicht mit einem Kind. Dass Jarle am Ende der Woche mit Lotte eine neue Lektion für sein Leben gelernt haben wird, ist zwar keine wirkliche Überraschung. Aber im Gegensatz zum kalkulierten, sämtliche Emotionen ausschöpfenden "Kokowääh" gefällt "Ich reise allein" mit seiner Natürlichkeit und Gelassenheit. Beides spiegelt sich sowohl im Humor als auch in den ernsten Momenten. Schade nur, dass dem charmant-kauzigen Film im letzten Drittel nicht mehr viel einfällt.

    "Ich reise allein" von Stian Kristiansen - akzeptabel!

    Und wir verlangen, dass ihr den König und die Königin von Spanien als Herrscher dieser Länder anerkennt. ...

    Dreharbeiten zu einem spanischen Film über die Landung von Christoph Kolumbus auf dem amerikanischen Kontinent sowie die anschließende Versklavung der indianischen Bevölkerung. Gedreht wird in Bolivien mit professionellen Schauspielern und einheimischen Laiendarstellern. Einer von ihnen ist Daniel. Dessen Aufmerksamkeit gilt aber längst nicht nur seiner Rolle. Viel wichtiger ist Daniel der Protest gegen die Privatisierung der Wasserversorgung. Für ihn - wie für die meisten Bewohner der Region - ist Wasser nahezu unerschwinglich geworden. Als der Wasserstreit von Tag zu Tag gewaltsamer ausgetragen wird, befürchtet der spanische Filmproduzent Costa nicht nur den Abbruch der Dreharbeiten. Auch Leib und Leben der Darsteller und des Teams sind in Gefahr.

    Ist das Daniel? Was macht dieser verfluchte Idiot denn da?
    Ja was wohl? Einen Aufstand anzetteln. Ich hab´ es dir gleich gesagt.
    Und was soll ich jetzt machen? Soll ich ihn einsperren?


    Während die Ureinwohner vor 500 Jahren zu Sklaven des spanischen Königs gemacht wurden, sind ihre Nachfahren heute Opfer der Profitgier internationaler Konzerne. Geschichte wiederholt sich. Zumindest wird sie von der Realität eingeholt. Vergangenheit und Gegenwart begegnen sich im Film der spanischen Regisseurin Icíar Bollaín. Ein Stoff, der mit seiner politischen Dimension auf den ersten Blick geeigneter gewesen wäre für eine Dokumentation. Doch Paul Laverty, langjähriger Drehbuchautor für Ken Loach und ein Meister des Sozialdramas, stellt den zynischen Filmproduzenten Costa und den kämpferischen Bolivianer Daniel in den Mittelpunkt der Handlung. Das Ergebnis ist eine zeitlose und bewegende Geschichte über Humanismus.

    "Und dann der Regen" von Icíar Bollaín - empfehlenswert!

    Probleme mit dem Wasser gibt es auch in Havanna. Doch sind diese nicht existenziell wie in Bolivien. Hier ist es lediglich eine kaputte Pumpe im Haus der Familie Torres. Ein Vier-Generationen-Haushalt, den der aus Brasilien stammende Filmemacher Renato Martins in "A Letter to the Future" porträtiert. Sieben Jahre lang hat Martins die kubanische Großfamilie mit seiner Kamera besucht.

    Wir leben unter einem heftigen, erdrückenden Embargo.

    Erzählt Pipo Torres, das älteste Familienmitglied. Viele Länder verkauften gar nichts an Kuba. Es sei nicht leicht, aber es funktioniert. Der Beweis seien doch sie, dass es ohne Probleme geht. Jeder aus der Familie Torres erzählt aus seinem Leben und dabei immer wieder von Kuba und den Gesichtern eines von der Revolution vor über 50 Jahren geprägten Landes. Kubanische Zeitgeschichte trifft auf kubanische Lebenswirklichkeit. Unkommentiert und wertungsfrei in einer aufschlussreichen und unterhaltsamen Collage.

    "A Letter to the Future" von Renato Martins - empfehlenswert!