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Von Vorrollis, Schellis und einem uralten Kalenderstreit

Im Schweizer Kanton Appenzell-Ausserrhoden wird das Silvester gleich zweimal gefeiert: Zum einen nach dem gregorianischen Kalender am 1.1. eines Jahres und knapp zwei Wochen später am 13. Januar, nach dem alten julianischen Kalender. Nach uralter Tradition erfreuen sich die Appenzeller dann an ihren Silvester-Chläusen.

Von Thomas Wagner | 13.01.2013
    Minustemperaturen, schneebedeckte Wiesen und Felder links und rechts der schmalen Ortsdurchfahrt – und dennoch ist in Urnäsch-Tal alles auf den Beinen: Wieder mal steht eine Gruppe maskierter Männer vor einem Haus, stimmt einen melancholischen Gesang an.

    "Das berührt einem im tiefsten Innersten. Das macht einem jedes Mal Gänsehaut, wenn man das hört. Es gibt eigentlich nichts Vergleichbares. Das ist so etwas Wunderschönes, so etwas Tief berührendes."

    "Diese Gesänge, diese ‚Zäuerli‘, folgen natürlich ganz bestimmten Grundregeln. Und jedes Mal kommt ein Juchzer. Das ist schon Ausdruck von melancholischer Lebensfreude, das auf so ein Alpenvolk ganz gut passt."

    Anita Hüner ist hier zuhause, mitten im Schweizer Kanton Appenzell-Ausserrhoden. Josef Büchelmeier reist nun schon zum sechsten Mal aus dem deutschen Friedrichshafen nach Urnäsch. Denn an diesem einen Tag stehen diejenigen im Mittelpunkt, die im Kreis vor den Häusern zusammenstehen, mal ihren melancholischen Gesang einstimmen; und Augenblicke später durch stetiges rhythmisches Auf- und Niederhüpfen die riesigen metallischen Kuhglocken, die sogenannten Schellen, zum Erklingen bringen. Ja, diese Männer in ihren Masken, mit ihren Schellen, das sind sie:

    "Die Kläuse, das sind jetzt die schönen Kläuse. Den Brauch, den sie aufführen, das ist eigentlich am neuen Silvester. Auf dem Kopf tragen sie die typischen Klausen-Hauben: Appenzeller Käse ist auf einer Haube, auf der anderen Haube ist ein Flughafen mit Flugzeug. Sie haben Masken auf, jawohl."

    Jakob Bischoff ist aus der Nachbargemeinde Herisau nach Urnäsch gekommen, wie jedes Jahr, wenn die Appenzeller Silvesterchläuse singend und schellend durch die Straßen ziehen.

    "Das ist das Brauchtum. Das ist ein hochheiliger Tag bei mir. Das ist ein Brauchtum, das wichtig ist. Und das pflegen wir noch. Warum berührt einen das? Man ist aufgewachsen damit. Wir sind hier in der Hochburg des Silvesterchlausens, im Tal der Urnäsch. Mein Vater ging Chlausen, mein Bruder, mein Mann geht Chlausen. Das ist einfach berührend."

    Prisca Keller steht in der Tür ihres Hauses, vor dem sie sechs Silvesterchläuse gerade gesungen und geschellt haben. Mit einer Handbewegung lädt sie den ‚Schuppel‘, wie die Appenzeller jeweils eine Chläuse-Gruppe nennen, zum Aufwärmen in die gute Stube ein. Dort gibt’s das ‚Z’nine‘, das zweite Frühstück.
    "So ein richtiger Appenzeller Schübling: Das ist eine Wurst. Und ich esse so eine richtige Gerstensuppe. Die Gerstensuppe – in erster Linie, Gerste, Rübli, ganz verschiedene Gemüse."

    Walter Frick braucht’s an diesem Morgen deftig. Seine weiß-rote Maske mit der Plastikblume im Mund hat er abgelegt; ebenso seine Schellen; alles zusammen wiegt über 20 Kilogramm. Das ist Walter Frick über eine Stärkung froh. Schließlich gibt er in seinem ‚Schuppel‘ den Nach-Rolli.

    "Ja, der Vorrolli, der geht voraus, der bestimmt die Route. Das wird schon vorgängig in der Gruppe abgestimmt und so besprochen. Und dann kommen bei uns die drei Schelli, und ich hinten nach und schaue, dass keiner untergeht, keiner vergessen geht, schaue, dass alle mitkommen und wünsche auch den Hausbewohnern, die wir besuchen, ein gutes Neues Jahr – und so geht es den ganzen Tag."

    Von morgens ab fünf Uhr bis abends später. Ein paar Minuten später – und Nachrolli Walter Frick ist mit seinen drei Schellis und seinem Vorrolli wieder auf der Straße unterwegs, singend und schellend, von Hof zu Hof, von Haus zu Haus. Sie tragen farbige, an Trachten erinnernde Gewänder, den sogenannten Groscht – ganz im Gegensatz zum nächsten ‚Schuppel; der in gar wüster Kostümierung aus Baumreisig einen furchterregenden Eindruck erweckt. Silvesterchlaus ist halt nicht gleich Silvesterchlaus, weiß der süddeutsche Zuschauer Josef Büchelmeier:

    "Es gibt ja drei Typen: Das eine sind die Wüsten, die anderen die Schön-Wüsten und die Dritten die Schönen. Und jetzt sind wie hier bei den Schönen. Die tragen ganz normale, aus Samt geschnittene Hosen und Jacken. Dann die ganz Wüsten sind ganz grässlich mit Tannenreisig und ganz schrecklichen Masken. Und die Schön-Wüsten, die sind so gemischt dazwischen."

    Der Wunsch nach einem guten Neuen Jahr bei ihren Gastgebern ist den
    Allen Silvesterchläusen gemein – egal, ob es nun Wüste, Schön-Wüste oder Schöne sind. Warum überhaupt gleich dreierlei Arten von Silvester-Chläusen über die Straßen huschen, weiß einer, der sich tagein, tagaus mit der Geschichte Appenzells beschäftigt – Edi Ehrbar vom Heimatmuseum Urnäsch:

    "Wir haben gesagt, dass das ein heidnischer Brauch ist, mit den wüsten Kläusen, dass die in der dunklen Jahreszeit die bösen Geister vertreiben. Und dann später hat man gesagt: Es gibt aber auch gute Geister. Die muss man mit den schönen Kläusen anlocken."

    Jüngste Ergebnisse der Brauchtumsforschung deuten allerdings darauf hin, dass sich das Silvesterchlausen von spätmittelalterlichen klösterlichen Traditionen in Frankreich herleiten lässt. Klar ist freilich, warum die Silvesterchläuse in Appenzell-Innerrhoden nicht nur am regulären, sondern auch am alten Silvester nach dem julianischen Kalender unterwegs sind.

    "Das ist wegen Kalenderstreit. Weil wir sind hier im Kanton Appenzell-Außerrhoden, früher fast restlos reformiert, protestantisch gewesen. In Innerrhoden waren die Katholiken, der katholische Landesteil. Dann ist der Kalenderstreit gekommen. Und da Papst Gregor den julianischen Kalender verbessert. Und dann haben die Protestanten gesagt: Der Papst hat uns nichts zu befehlen. Wir feiern Silvester immer noch nach dem Kalender, wie wir ihn bi jetzt hatten. Und von daher kommt’s, dass der 13. Januar immer noch der Silvestertag ist."

    Und das wird auch in Zukunft so bleiben, hier in Urnäsch, in Appenzell-Ausserrhoden. Nicht nur, dass dort Silvester auch in Zukunft etwas später ausfallen wird als anderswo – auch die Silvesterchläuse, seien es nun Schöne oder Wüste, werden auch in den kommenden Jahrzehnten von Haus zu Haus ziehen. Kein Wunder, dass sich versierte Silvester-Chlaus-Touristen wie Josef Büchelmeier bereits jetzt auf eines freuen:

    "Aufs nächste Jahr natürlich. Und aufgepasst: Nächstes Jahr ist der 13. Januar wahrscheinlich ein Montag. Und dann ist es besonders günstig, sonntags abends herzukommen. Denn in normalen Jahren geht’s schon sehr früh morgens los. Ich war schon ganz früh da, so um fünf, sechs Uhr. Das ist dann sehr, sehr schön."