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Von wegen harter russischer Winter

Die Niederlage der Armee Napoleons in Russland im Spätherbst 1812 markiert den Anfang vom Ende der Herrschaft Frankreichs über Europa. Dieses Drama ist zumeist aus westlicher Sicht erzählt worden. Dominic Lieven hat nun ganz andere, nämlich russische Quellen zu Rate gezogen – und kommt zu ganz neuen Schlüssen.

Von Volker Ullrich | 10.10.2011
    "Kein Professor aus einem westlichen Land hat je ein Buch über Russlands Kriegführung gegen Napoleon geschrieben. Ein Grund liegt darin, dass die russischen Militärarchive erst seit 1991 für ausländische Forscher zugänglich sind. Ein wichtigeres Motiv ist jedoch der Glaube, die französische und die preußische Armee stellten viel lohnendere Forschungsgegenstände dar, weil sie moderner erscheinen."

    Schreibt Dominic Lieven im Vorwort seines Buches. Der britische Historiker hat sich in die russischen Militärarchive begeben und dort unter anderem die Personalakten der russischen Regimenter studiert. Darüber hinaus hat er eine umfangreiche russische Literatur – Akteneditionen, Memoiren, Tagebücher – ausgewertet, die von westlichen Historikern aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse kaum zur Kenntnis genommen worden ist.

    Auf der Basis einer außerordentlich breiten Quellengrundlage kann der Autor die Schlüsselfrage beantworten, wie und warum es dem scheinbar rückständigen Russland gelang, sich gegenüber einer überlegenen, als unbesiegbar geltenden Militärmacht zu behaupten.

    Lievens Buch ist alles andere als eine konventionelle Militärgeschichte. Gewiss, militärische Planungen und Operationen bilden den Kern, doch widmet es große Aufmerksamkeit auch der Logistik, der Ausrüstung und Versorgung der Armeen – ein Bereich, der auch von Militärhistorikern zumeist vernachlässigt wird. Die glänzend geschriebene Darstellung wird darüber hinaus aufgelockert durch Porträts der führenden Akteure auf russischer Seite – allesamt meisterhafte biografische Miniaturen. Und auch die Diplomatie kommt nicht zu kurz:

    "Das Militärische und Diplomatische war in jenen Jahren eng miteinander verwoben und müssen daher im Zusammenhang untersucht werden."

    Der Autor hat eine interessante Entdeckung gemacht: Seit Sommer 1810 war die russische Regierung in Sankt Petersburg durch ihre Geheimdienste darüber informiert, dass Napoleon einen Angriff plante, und so hatte sie hinreichend Zeit, um sich auf den Krieg vorzubereiten. Wie sie auf die Aggression antworten sollte, hielt Zar Alexander I. bereits im Mai 1811 fest:

    "Wir müssen die Strategie anwenden, die am meisten Erfolg verspricht. Mir scheint, das kann nur bedeuten, große Schlachten sorgfältig zu vermeiden."

    Und genau so geschah es. Statt sich einer offenen Feldschlacht zu stellen, zogen sich die russischen Armeen zurück und lockten den Gegner immer tiefer ins Innere Russlands. Dabei wandten sie die Taktik der "verbrannten Erde" an, um zu verhindern, dass sich die feindlichen Truppen aus den besetzten Gebieten ernähren konnten.

    Allerdings macht Lieven deutlich, dass diese Zermürbungsstrategie unter den hohen russischen Offizieren keineswegs unumstritten war. Je weiter die Armeen Napoleons ins russische Kernland vordrangen, desto mehr drängten sie darauf, zum Angriff überzugehen. Beim Dorf Borodino, 124 Kilometer vor der alten russischen Hauptstadt Moskau, stellten sich die russischen Truppen schließlich am 7. September zur Schlacht.

    Der Autor hat das Gelände inspiziert, um sich eine Vorstellung davon zu machen, was sich damals abgespielt hat. So genau wie kein Historiker vor ihm schildert er den hin- und herwogenden Kampf – einen der blutigsten der Kriegsgeschichte. Zwar behielt Napoleon die Oberhand, doch die Russen konnten sich geordnet zurückziehen. Damit war der Feldzug gescheitert, und mit dem Einmarsch in Moskau Mitte September schnappte die Falle endgültig zu.

    Viel ist darüber gestritten worden, wer für den verheerenden Brand verantwortlich war, der die Stadt zum großen Teil zerstörte. Lieven sieht die Hauptverursacher unter den Russen, die hier ihre Taktik der "verbrannten Erde" mit anderen Mitteln fortsetzten. An dieser Stelle unterbricht der Autor die Darstellung des Kriegsgeschehens, um sich der russischen "Heimatfront" des Jahres 1812 zuzuwenden. Eindrucksvoll beschreibt er, wie es der Zar und seine Berater verstanden, durch den Appell an patriotische Gefühle die russische Gesellschaft mitsamt ihren Ressourcen zu mobilisieren.

    Sie zwangen Napoleon eine Kriegführung auf, die wir heute asymmetrisch nennen. Wie schon zuvor in Spanien entwickelte sich ein Guerillakrieg, bei dem Partisanenverbände die überdehnten Versorgungslinien des Feindes attackierten. Lieven verschweigt nicht die dunkle Seite dieses Krieges: Französische Soldaten, die den Bauern in die Hände fielen, wurden oft auf grausamste Weise gefoltert und umgebracht. Ein russischer Offizier schrieb angesichts der Gräueltaten, er lebe

    "inmitten einer Verwüstung, die zu bezeugen scheint, dass Gott sich von der Erde abgewandt hat und jetzt hier der Teufel regiert".

    Lieven räumt mit einer immer noch populären Legende auf: nämlich dass es der extrem kalte russische Winter gewesen sei, der zum Untergang der Grande Armée auf ihrem Rückzug aus Moskau geführt habe. Der Oktober und auch noch die zweite Novemberhälfte waren im Gegenteil ungewöhnlich milde, und erst im Dezember, als der größte Teil der französischen Streitkräfte nicht mehr existierte, fielen die Temperaturen stark.

    Ausschlaggebend für Napoleons Niederlage war nicht das Wetter, sondern, wie der Autor nachweist, die Überlegenheit der russischen leichten Kavallerie. Unaufhörlich umschwärmten Kosakenregimenter die zurückweichenden feindlichen Kolonnen und fügten ihnen schwerste Verluste zu. Ende Oktober berichtete der Kommandeur einer Kosakeneinheit:

    "Die Armee des Gegners flieht auf eine Weise wie sich noch nie eine Armee in der Geschichte zurückgezogen hat. Sie lässt Bagage, Kranke und Verwundete zurück. Wer ihr folgt, dem bietet sich ein grauenvoller Anblick: Sterbende und Tote auf Schritt und Tritt."

    Leo Tolstoi lässt seinen Roman "Krieg und Frieden" mit dem Dezember 1812 enden, als der Krieg erst halb vorbei war und noch der lange und schließlich siegreiche Weg nach Paris bis März 1814 bevorstand. Lieven hingegen bezieht diese zweite Phase des Krieges intensiv mit ein. Er unterstreicht dabei besonders die Rolle Alexanders I., dem es mit diplomatischem Geschick gelang, die große Koalition mit Preußen, Österreich und Schweden zu schließen, der Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 unterlag.

    Allein dieser kriegsentscheidenden Schlacht widmet der Autor ein langes, vierzig Seiten umfassendes Kapitel – ein Glanzstück kühler analytischer Militärgeschichtsschreibung, die doch zugleich die unerhörten Leiden der Soldaten niemals aus dem Blick verliert.

    Lievens Buch bietet zwar keine "grundlegend neue Bewertung der Napoleon-Zeit", wie sie die Verlagswerbung verspricht, wohl aber setzt es, indem es den russischen Anteil am Sieg über Napoleon in helles Licht rückt, starke korrigierende Akzente. Das Fazit lässt eine durchaus aktuelle Botschaft anklingen:

    "Die Napoleonzeit ist ein klassisches Beispiel für die Interdependenz der Sicherheit Russlands und Europas. Auch in dieser Zeit leistete Russland also einen wichtigen Beitrag zur Wiederherstellung von Frieden und Stabilität in Europa."

    Dominic Lieven: "Russland gegen Napoleon: Die Schlacht um Europa".
    C. Bertelsmann-Verlag, 780 Seiten, 34 Euro