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Von wegen Müll!

Genetik. - Unser Erbgut enthält viel weniger Müll als bisher vermutet. Mehr als zehn Jahre nach der Entzifferung des menschlichen Erbguts hat ein internationaler Forscherverbund so etwas wie die Grammatik unseres "Bauplans" vorgelegt. Der Wissenschaftsjournalist Martin Winkelheide hat die wichtigsten der gut zwei Dutzend Publikationen des Projektes durchgesehen, die jetzt erschienen. Im Gespräch mit Arndt Reuning berichtet er über die zentralen Punkte.

Martin Winkelheide im Gespräch mit Arndt Reuning | 06.09.2012
    Reuning: Herr Winkelheide, was sagen Sie denn? Was war die größte Überraschung daraus?

    Winkelheide: Die größte Überraschung war sicherlich, in welch großem Umfang das Erbgut tatsächlich genutzt wird. Denn mit dem Human Genome Project haben Forscher ja erst einmal gelernt: Die Zahl der Gene ist kleiner als gedacht. Es gibt nur so etwa 22.000 klassische Gene, also die den Bauplan enthalten für Proteine, für Eiweiße. Und diese Gene machen eben nur ein Prozent des Erbgutes. Und der Rest, so dachte man früher, das sei junk DNA, also Müll. Und das Problem war aber immer: Mit den Genen alleine lässt sich eben vieles nicht erklären. Und deswegen haben die Encode-Forscher sich die restlichen 99 Prozent des Gutes angeschaut. Sie haben gefragt: Was wird da eigentlich genutzt, was wird nicht genutzt? Und die Erkenntnis ist: Der vorgebliche Müll wird zu mindestens 80 Prozent genutzt. Er hat wichtige biologische Funktionen, vor allem zur Genregulation und selbst bei den übrigen 20 Prozent, die übrig bleiben, da ist man sich nicht ganz sicher, ob es nicht vielleicht auch eine Funktion hat, oder haben könnte, oder in Zukunft bekommen könnte. Ob es also etwas..., so etwas ist wie eine Entwicklungsreserve, etwa, wenn wir Menschen uns auf wandelnde Umweltbedingungen einstellen müssen.

    Reuning: Das heißt, man hat diese Grammatik etwas besser verstanden. Kann man die denn auf eine einfache Formel bringen?

    Winkelheide: Nein. Die Grammatik ist extrem kompliziert und komplex. Man muss ja gucken, was die Forscher gemacht haben: In diesem Encode-Projekt, das Kürzel steht für Enzyklopädie der DNA-Elemente, hat man 1640 Datensätze erstellt, von 150 verschiedenen Zelltypen des Menschen, also von Hautzellen, von Leberzellen oder von Herzzellen. Und die Forscher haben geschaut: In welchen Fällen werden welche Teile der DNA genutzt, abgelesen, umgeschrieben in RNA. Und dabei entdeckten sie ungefähr vier Millionen Genschalter, also kleine RNA-Moleküle, die dafür sorgen, dass ein bestimmtes Gen aktiviert wird oder nicht, und dafür sorgen, wie viele, ob, wie viel oder wie wenig oder gar kein Protein gebildet wird. Und in jeder Zelle sind ungefähr nur 200.000 dieser vier Million Schalter aktiv. Also man sieht, gibt es Riesenunterschiede. Und das erklärt vielleicht auch die Unterschiede im Aussehen und in der Funktion der verschiedenen Zellen. Denn im Zellkern hat ja eigentlich jede Zelle dasselbe Erbgut, aber das wird sehr unterschiedlich genutzt. Und Encode hat eben noch weitere Elemente der Genregulation sich angeschaut, also zum einen: Wie ist das DNA-Material überhaupt verpackt. Der DNA-Strang wird ja aufgewickelt auf so genannte Histone, und das bestimmt eben mit, welche Information schnell zugänglich ist, welche eben nicht gut zugänglich ist. Und dann gibt es eben noch chemische Veränderungen an der DNA, also zum Beispiel Methylierungen, die dafür sorgen, dass Gene stumm geschaltet werden. All das hat eben Eingang gefunden in die Enzyklopädie. Man sieht: riesige Datenmengen sind zusammengetragen worden, und die gilt es jetzt auszuwerten.

    Reuning: Gibt es sind dafür praktische Anwendungen, zum Beispiel im Hinblick auf bestimmte Erbkrankheiten oder Gesundheit im Allgemeinen?

    Winkelheide: Es ist, sage ich mal, Grundlagenforschung mit Potenzial. Auf der einen Seite sieht man: Es ist viel, viel komplexer als man befürchtet hat. Und auf der anderen Seite sieht man aber auch: Die Komplexität lässt sich wieder reduzieren. Also der Blick auf die regulatorischen Elemente kann zum Beispiel auch die Suche nach neuen Medikamenten erleichtern. Die Forscher haben zum Beispiel gesehen, an sehr unterschiedlichen Tumorerkrankungen spielen nur etwa 20 Regulatoren eine Schlüsselrolle. Das ist ein Ziel zum Beispiel für neue Wirkstoffe. Oder bei chronischen Entzündungen, Krankheiten, wo man denkt, das gehört überhaupt nicht zusammen, sieht man: Es sind eine Hand voll Faktoren, die bei all diesen Krankheiten eine Rolle spielen, und da ist nun doch die, Hoffnung: Vielleicht gibt es doch Medikamente, die nicht nur bei einer Krankheit wirken sondern bei vielen. Aber das Verständnis für die Regulation des Genoms, das ist noch erst am Anfang.