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Vor 100 Jahren
Chinesische Studierende protestieren gegen Versailles

Am 4. Mai 1919 protestierten Tausende Studenten in Peking gegen Japan und den Friedensvertrag von Versailles. Doch schnell ging es um mehr: um nationale Souveränität und ein Aufbegehren gegen Bevormundung. Bis heute gilt das Datum als Ausgangspunkt der ersten modernen Massenbewegung Chinas.

Von Ruth Kirchner | 04.05.2019
    4. Mai 1919: Chinesische Studierende protestieren gegen Japan und den Friedensvertrag von Versailles
    4. Mai 1919: Chinesische Studierende protestieren gegen Japan und den Friedensvertrag von Versailles (imago images / United Archives International)
    Ein unscheinbares, rotes Backsteingebäude an einer belebten Hauptstraße mitten in Peking. Schon vor dem Eingang in der Wu-Si – der "Vierten-Mai-Straße" – drängen sich die Besucher: Delegationen der Kommunistischen Partei, Schüler- und Studentengruppen.
    Das alte Gebäude, das früher zur Peking Universität gehörte, ist heute ein Museum. Hier sind historische Fotos und Zeitschriften ausgestellt, die an die Studentenproteste erinnern, die am 4. Mai 1919 Chinas Gesellschaft nachhaltig erschütterten.
    Anlass für die Demonstrationen waren die Friedensverhandlungen im weit entfernten französischen Versailles. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sollte dort besiegelt werden, dass die deutsche Niederlassung im Osten Chinas an Japan gehen sollte. Dass China sein eigenes Territorium nicht zurückbekommen sollte, war für Pekings junge Elite eine unerträgliche Demütigung. Aus Protest zogen daher am Morgen des 4. Mai rund 3.000 Studenten in die Pekinger Innenstadt und zum Gesandtschaftsviertel, sagt der Historiker Helwig Schmidt-Glintzer vom China-Zentrum Tübingen:
    "Also, es war eine gegen den Friedensvertrag und auch gegen Japan und auch gegen die Vertreter Chinas gerichtete Demonstration und war der Beginn, wenn man so will, eines nationalen Aufbruchs."
    Breite Schichten der Bevölkerung schlossen sich Protesten an
    Denn die Proteste nahmen rasch an Fahrt auf – nicht nur in Peking, sondern auch in anderen Städten. In Shanghai etwa gingen wenige Tage später Hunderttausende Menschen auf die Straße.
    "Und das Besondere war, dass hier plötzlich nicht mehr nur die der Elite ja zuzurechnenden wenigen Studierenden, sondern eben breite Schichten der Bevölkerung, der Kaufmannschaft, mitmachten und das war ein wesentliches Element, dann zum Beispiel Boykott japanischer Waren, das war dann in Shanghai besonders wichtig. Und diese Entwicklung setzte sich dann auch in den nächsten Jahren fort."
    Die Proteste gegen Versailles waren nur der Anfang. Schnell ging es um mehr, um eine "intellektuelle Revolution" der urbanen Bevölkerung: um nationale Souveränität, um die eigene Identität, um ein Aufbegehren gegen Bevormundung im eigenen Land. Konkrete Forderungen blieben aber eher diffus:
    "Es ging schon um die Ablehnung alter konfuzianischer Traditionen, der alten Bildungshürden, man wollte eine neue Sprache, eine neue Kultur, es ging auch um die Rechte der Frauen, das war ein ganz starkes Element. Und es ging auch um die Selbstorganisation der Studierenden, sie wollten eben gegen das alte korrupte System, in ihren Augen korrupte System vorgehen."
    Tag steht für Erneuerung, Renaissance, Aufklärung
    Und gründeten deshalb landesweit ihre eigenen Studentenvereinigungen. Die Unruhen zogen sich über mehrere Wochen hin. Es gab Verhaftungen, neue Proteste, Freilassungen. Und Erfolge: China weigerte sich im Juni 1919, den Friedensvertrag von Versailles zu unterschreiben. Wichtiger noch: Die großen politisch-intellektuellen Strömungen des modernen China nahmen in der Bewegung des Vierten Mai ihren Anfang.
    Im Museum in Peking klingt leise Musik aus Lautsprechern. Hier wird die Protestbewegung von damals als Wiege des Sozialismus gefeiert. Auch Chinas Staatspräsident Xi Jinping zog wenige Tage vor dem 100-jährigen Jubiläum eine direkte Verbindung von 1919 zum Marxismus und zum heutigen China. Was historisch ungenau ist. Denn die politische Zukunft Chinas war 1919 offen, die Entwicklung zur sozialistischen Volksrepublik nicht so zwangsläufig wie es die chinesische Geschichtsschreibung darstellt. Bis heute aber ist der 4. Mai für all jene, die mit den herrschenden Verhältnissen nicht einverstanden sind, ein wichtiges "Unzufriedenheitsdatum", wie Schmidt-Glintzer sagt, und damit ein schwieriges Datum für die kommunistische Führung in Peking:
    "Es ist schwierig, weil es im Grunde von niemandem vereinnahmt werden kann, weil so viele Meinungen dort auf die Straße gingen. Aber es hat seine Faszination behalten, weil eben gerade viele sich vereinigten und man für China eine neue Welt, eine Erneuerung, eine Renaissance, eine Aufklärung wollte, und diese Begriffe sind bis heute mit dem 4. Mai 1919 verbunden."