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Vor 100 Jahren
Die Berliner Märzkämpfe enden

Im März 1919 erließ SPD-Politiker Gustav Noske in Berlin einen Schießbefehl, den er noch im selben Monat aufhob. Keiner weiß es genau - aber am Ende der Gewaltorgie waren fast 2.000 Menschen tot - und die Spaltung der deutschen Arbeiterklasse zu einem unüberbrückbaren Graben geworden.

Von Bernd Ulrich | 16.03.2019
    Straßenkampf im März 1919 unter dem Brandenburger Tor in Berlin
    Straßenkampf im März 1919 unter dem Brandenburger Tor in Berlin (picture alliance / imageBROKER / Rosseforp)
    "Nach ihrem Misserfolg in Berlin besetzten die Spartakisten gestern Abend Lichtenberg und unternahmen einen Rachezug gegen die Polizeiwache des Ersten Reviers. Die Spartakisten ermordeten sämtliche Offiziere, Wachtmeister und Soldaten."
    Die kurze Meldung im Nachrichtendienst "Wolffs Telegraphisches Bureau" am 9. März 1919 erschien bereits am nächsten Tag in allen Berliner Zeitungen, sensationsgierig aufgebauscht und um keine Lüge verlegen. So auch im sozialdemokratischen "Vorwärts":
    "Was am Sonnabend in Lichtenberg geschehen ist, das ist ein gemeiner Massen- und Meuchelmord. Die Feder sträubt sich, wenn sie die grauenerregenden Handlungen beschreiben soll, die von spartakistischen Haufen an wehrlosen Gefangenen verübt worden sind. Sechzig Polizeibeamte und einige Dutzend Regierungssoldaten sind wie Tiere abgeschlachtet worden."
    Solche Berichte über die "spartakistischen Bestialitäten" in Lichtenberg – es war dort zu Plünderungen und zu Übergriffen auf Polizisten gekommen - markierten den Beginn der "Märzkämpfe" und dienten als Begründung für einen Schießbefehl. Er wurde von dem kurz zuvor ernannten sozialdemokratischen Reichswehrminister Gustav Noske unterzeichnet und am 10. März wirksam. Drei Tage später führte er in einer Rede aus:

    "Ich freue mich feststellen zu können, dass Lichtenberg gestern abend kampflos von den Truppen besetzt worden ist. Dazu hat beträchtlich ein Erlass beigetragen, den ich schweren Herzens am 9. abends unterzeichnet habe. Er lautet: Jede Person, die mit den Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen. In höchster Not habe ich mich zu dieser Anordnung entschlossen. Aber ich durfte die Abschlachtung von einzelnen Soldaten nicht weiter dauern lassen."
    Arbeiter- und Soldatenräte sollten beseitigt werden
    Auch die radikale Linke verübte Gewalttaten. Vor allem aber war sie in jenen Tagen immer wieder Gewalt-Opfer. Die Niederschlagung des Januaraufstands und die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts am 15. Januar 1919 wirkten nach. Dennoch herrschte in einem Punkt Einigkeit mit vielen Arbeitern: Die Revolution vom November 1918 sollte durch die SPD unter Friedrich Ebert annulliert und die Arbeiter- und Soldatenräte beseitigt werden. Eben deshalb war am 3. März der Generalstreik für Groß-Berlin beschlossen worden - ein hilfloser Versuch, das Rätesystem und damit die Revolution zu retten.
    Genau das wollte Noske mit allen Mitteln verhindern. Generalmajor Georg Maercker, Kommandeur einer jener Freikorpseinheiten, die Noske in Richtung Berlin und Lichtenberg ab dem 4. März in Bewegung gesetzt hatte, brachte es auf den Punkt:
    "Im Kampf der Reichsregierung gegen die Linksradikalen handelte es sich ausschließlich um die Erhaltung der politischen Macht. Die Regierung aber fürchtete sich, Farbe zu bekennen und zu erklären, daß die Freiwilligentruppe dazu diene, die Räteherrschaft zu beseitigen, wo sie noch bestand."
    Der Generalstreik wurde bereits am 8. März abgebrochen. Doch die von Seiten der rechten Freikorps mit den Waffen des Ersten Weltkriegs, darunter mit Minenwerfern und Bombenangriffen geführten Kämpfe gingen weiter, vornehmlich in den östlichen Bezirken Berlins - in ihrer Brutalität angestachelt durch die angeblichen Lichtenberger Morde.
    Aufhebung des Schießbefehls
    Am 16. März hob ein Erlass Noskes den Schießbefehl endlich auf. Zu diesem Zeitpunkt war längst klar, dass die Gräuelmeldungen reine Erfindung waren. Beachtung fand das kaum. Noske sprach nun von einem "Aufstand", den er gemeinsam mit den Freikorps niedergeschlagen hatte:
    "In Berlin hat eine Woche lang eine Schlacht mit allen ihren Schrecken getobt. Ich kann mitteilen, dass der Aufstand niedergeschlagen ist. Nur eine Säuberungsaktion ist in einigen Vororten noch vorzunehmen."
    Die "Säuberungsaktion" zog sich trotz Aufhebung des Schießbefehls noch wochenlang hin, mit willkürlichen Verhaftungen und Misshandlungen. Der unabhängige Sozialdemokrat Richard Müller, zugleich Anführer der "Revolutionären Obleute" - einer im Weltkrieg gegründeten Gruppe unabhängiger Gewerkschafter – hatte sich gleichermaßen als Gegner der SPD wie der radikalen Linken und Rechten einen klaren Blick bewahrt:
    "Der Militarismus entfaltete eine Herrschaft wie nie zuvor. Was im kaiserlichen Deutschland unmöglich war, das konnte geschehen und wurde gedeckt von Männern, die mit sozialistischer Phraseologie im Blute ihrer Klassengenossen wateten."
    Keiner weiß es genau - aber am Ende der Gewaltorgie waren fast 2.000 Menschen tot - und die Spaltung der deutschen Arbeiterklasse zu einem unüberbrückbaren Graben geworden.