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Vor 20 Jahren
Der Bundestag beschloss den "großen Lauschangriff"

Die "Akustische Wohnraumüberwachung" durch Polizei und Staatsanwaltschaft auf richterliche Anordnung greift tief in den vom Grundgesetz geschützten Bereich des Privatlebens ein. Die Grundlagen für die umstrittene Maßnahme legte der Bundestag am 16. Januar 1998.

Von Wolfgang Stenke | 16.01.2018
    Ein Mann benutzt ein Abhör-Gerät
    Ein Symbol-Bild aus dem Jahr 1998: So stellten sich Fotografen damals den Lauschangriff vor. In Wirklichkeit war er weniger spektakulär (picture alliance / dpa / Hubert Link)
    Die Spitzenmeldung des Tages kam aus dem Bonner Bundeshaus:
    "Der Staat soll künftig größere Ohren machen dürfen als bisher, um verdächtige Bürger abzuhören. Dafür hat am frühen Nachmittag der Deutsche Bundestag mit knapper Zweidrittelmehrheit plädiert."
    Es ging um den sogenannten großen Lauschangriff. Mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Teilen der SPD beschloss das Parlament an diesem 16. Januar 1998 die Änderung von Artikel 13 Grundgesetz. Sein erster Absatz lautet:
    "Die Wohnung ist unverletzlich."
    Trotz des hohen Rangs dieser Verfassungsbestimmung sorgte die schwarz-gelbe Koalitionsregierung unter Helmut Kohl für die höchst umstrittene Änderung von Artikel 13. Sie erlaubte im Falle des Verdachts besonders schwerer Verbrechen den Einsatz technischer Mittel zur akustischen Wohnraumüberwachung nach vorheriger richterlicher Anordnung. Zur Begründung des Einsatzes verdeckter Mikrofone - umgangssprachlich "Wanzen" - verwiesen Polizei, konservative Rechtspolitiker und Juristen auf die angeblich notwendige Stärkung des "wehrhaften Rechtsstaates". Rupert Scholz, damals Juraprofessor und CDU-Bundestagsabgeordneter:
    "Eine Rechtsordnung muss reagieren auf die Bedrohung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit. Heute - und das zeigen ja auch ausländische Erfahrungen, gerade im Kampf gegen die organisierte Krimininalität - wird man auf entsprechende technische Überwachungsmöglichkeiten - ich sage einmal, leider - nicht mehr verzichten können. Das ‚leider’ bezieht sich aber vor allem auf die Kriminalität und nicht auf die Maßnahme."
    Nach einer Urabstimmung trat die Justizministerin zurück
    Schon vor 1998 versuchten die Anhänger einer Verfassungsänderung mit dem Hinweis auf das Reizwort "organisierte Kriminalität", die Bedenken liberaler Rechtspolitiker auszuräumen. Sicherheitsdenken stand hier gegen freiheitliche Grundüberzeugungen. Die FDP setzte 1995 eine Urabstimmung an, bei der mehr als 63 Prozent der Mitglieder für den "großen Lauschangriff" votierten. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), eine entschiedene Gegnerin der Überwachungsmaßnahmen, trat daraufhin von ihrem Amt zurück.

    "Das ist eine Richtungsänderung liberaler Rechtspolitik. Denn die Bewertung der Grundrechte wird jetzt anders vorgenommen. Wir werden immer unempfindlicher gegenüber unseren Grundrechten, die Grundlage unseres Handelns als Liberale sein müssen."
    Nachdem auch der Bundesrat der Grundgesetzänderung zugestimmt hatte, traten u.a. Gerhart Baum, Burkhard Hirsch und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Exponenten des rechtspolitisch liberalen Flügels der FDP, 1999 den Gang nach Karlsruhe an. Erst 2004 fiel das Urteil. In den Leitsätzen heißt es:
    "Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde (…) gehört die Anerkennung eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung. (…) Nicht jede akustische Überwachung von Wohnraum verletzt den Menschenwürdegehalt des Art. 13 Abs. 1 GG. Die auf die Überwachung von Wohnraum gerichtete gesetzliche Ermächtigung muss Sicherungen der Unantastbarkeit der Menschenwürde enthalten und der Verfassung entsprechen."
    Technische Probleme bei der Platzierung von Wanzen
    Der Frankfurter Verfassungsrechtler Erhard Denninger hielt die Entscheidung für eines der "großen Urteile" zur "Konkretisierung der Grundrechte":
    "Die Mehrheit der Richter geht von der Auffassung aus, die akustische Wohnraumüberwachung verletze nicht generell den Menschenwürdegehalt des Grundgesetzes, doch müsse sich das Abhören auf Gesprächssituationen beschränken, die mit Wahrscheinlichkeit strafverfahrensrelevante Inhalte umfassen. Gibt es Anhaltspunkte, dass die Menschenwürde durch die Überwachungsmaßnahme verletzt wird, dann muss sie von vornherein unterbleiben."
    Nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts entsprachen zahlreiche Durchführungsbestimmungen der Strafprozessordnung nicht dem Grundgesetz. Sie mussten geändert werden. Die Auflagen, die sich daraus für die Sicherheitsbehörden ergaben, verhinderten einen unverhältnismäßig häufigen Einsatz des "großen Lauschangriffs." Hinzu kamen die technischen Probleme bei der Platzierung von Wanzen. Für 2015 vermerkt der vom Grundgesetz geforderte Bericht der Bundesregierung insgesamt sieben Maßnahmen, 2014 waren es sechs. Was vor 20 Jahren etlichen Politikern noch als Königsweg der Verbrechensbekämpfung erscheinen mochte, war wohl nicht immer eine Sackgasse, meist aber ein mühsamer Trampelpfad.