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Vor 20 Jahren
Land unter im Oderbruch

Anhaltende starke Regenfälle über Gebirgsregionen in Tschechien und Polen führten im Sommer 1997 zu einer schweren Flut im Odergebiet. Ende Juli brachen mehrere Deiche und lösten mit insgesamt 30.000 Soldaten den größten Inlandseinsatz der Bundeswehr im Katastrophenschutz aus.

Von Andrea Westhoff | 24.07.2017
    Als das Wasser kam: Ratzdorf aus der Luft fotografiert
    Als das Wasser kam: Ratzdorf 1997 aus der Luft fotografiert (picture alliance / dpa / Torsten Silz)
    "Unter Tiefdruckeinfluss gibt’s zum Teil ergiebigen Regen. Die kräftigen Regenfälle ..."
    Das Wetter spielt völlig verrückt Anfang Juli 1997: Vor allem in den polnischen und tschechischen Gebirgsregionen gehen fast 600 Liter Regen pro Quadratmeter nieder. Dadurch treten die Flüsse, insbesondere die Oder, über die Ufer. Am 13. Juli sind ganze Stadtteile von Breslau überflutet, einen Tag später wird für das Brandenburger Grenzgebiet die Alarmstufe 1 ausgerufen. Viele Oderbruchbewohner aber nehmen es gelassen:
    "Ich bin hier groß geworden, jedes Jahr zwei-, dreimal Hochwasser."
    "Deswegen ist man gar nicht so ängstlich."
    "Hier sind soviel Alte,die schon 47 dat Wasser mitjemacht haben."
    "Ach, wir gehen nich. Wir gehen nicht!"
    "Wo soll ick denn hin, als alte Frau."
    Eine beispiellose Gemeinschaftsaktion
    Doch dann spitzt sich die Lage dramatisch zu, als die Wassermassen am 17. Juli Ratzdorf erreichen, wo Oder und Neiße zusammenfließen. Der Pegel erreicht hier 6,20 Meter, dreieinhalb Meter mehr als sonst im Sommer.
    "Ich war ja als Dammläufer, und es sieht schlimm aus: Also es steht stellenweise wirklich bis Dammkante. Und jetzt sollen noch 50 Zentimeter kommen. Und das muss ja irgendwo bleiben, ne."
    In einer beispiellosen Gemeinschaftsaktion versuchen Bundeswehr, Technisches Hilfswerk und viele andere Organisationen, die durchnässten Deiche zu stabilisieren. Zusammen mit unzähligen freiwilligen Helfern füllen und stapeln sie mehr als acht Millionen Sandsäcke. Jede Hand wird gebraucht:
    "Ich kann bloß sagen: Alle Leute, die helfen wollen, bitte kommt runter und helft. Es ist eine Schweinearbeit."
    Viele wollen ihre Häuser nicht verlassen
    Auch Matthias Platzeck, damals brandenburgischer Umweltminister, ist häufig direkt vor Ort. Das bringt ihm den Spitznamen "Deichgraf" ein und vor allem den politischen Ruf als zupackender Macher. Am 23. Juli jedoch muss er eine erste Niederlage im Kampf mit den Naturgewalten eingestehen,
    "Das Wasser fließt in die Ziltendorfer Niederung, die Vorbereitungen laufen, dann die Menschen auch aus den unteren Bereichen der Randorte der Niederung rauszuholen".
    Aber viele wollen ihre Häuser nicht verlassen, weil sie immer noch auf ein Wunder hoffen oder Plünderungen befürchten. Stunde um Stunde fahren Polizeiwagen mit Megafonen durch die matschigen Dorfstraßen:
    "Wir fordern Sie dringlichst auf, das Dorf zu verlassen. Sie sind ernstlich gefährdet, weil es zu einem Deichbruch der Oder gekommen ist."
    Über 5.000 Hektar Land stehen unter Wasser
    Bei Brieskow-Finkenheerd hat das Wasser eine 70 Meter große Lücke in den Deich gerissen, die rasend schnell auf 200 Meter anwächst.
    "Die Einsatzkräfte bleiben vor Ort, um die Deiche weiter zu verteidigen und zu schützen."
    Aber am 24. Juli bricht wenige Kilometer weiter, bei Aurith, der zweite Deich. Über 5.000 Hektar Land stehen unter Wasser. Und ein Ende ist nicht in Sicht: Neue Regenfälle lassen die Pegel wieder steigen, erneut werden tausende Menschen evakuiert. Denn es droht ein Deichbruch bei Hohenwutzen – und damit die Überflutung des gesamten Oderbruchs. Aber die Katastrophenhelfer geben nicht auf.
    "Hier Sandsack – Sandsack, noch schneller, weiter, da gib mal runter – schieb mal da nach rechts!
    "Das Wunder von Hohenwutzen"
    Tag und Nacht lassen Hubschrauber Sandsäcke über dem Deich ab, die dann schnell in die Rissstellen geschichtet werden. Taucher bringen von der Wasserseite zusätzlich eine Folie an, und schließlich wird dem Schutzwall mit einer speziellen Vakuumtechnik Wasser entzogen. Am 31. Juli tritt Brandenburgs Innenminister Alwin Ziel stolz vor die Presse:
    "Kaum einer hat geglaubt, dass wir von gestern Abend an gerechnet bis jetzt diesen Deich erhalten konnten, so zerfleddert der auch schon ist, es grenzt an ein Wunder".
    Und er hält tatsächlich: "Das Wunder von Hohenwutzen" nennen es die Anwohner später.
    Anfang August ist die akute Gefahr dann offenbar wirklich vorüber. Anders als in Polen und Tschechien hat es glücklicherweise keine Toten gegeben, und die Evakuierten kehren in ihre Häuser zurück – oder in das, was davon übrig ist. In einer Welle der Hilfsbereitschaft überall im Land werden mehr als 50 Millionen Euro gespendet. Aber das große Gemeinschaftsgefühl vom Sommer 1997 geht schnell vorbei, während die versprochenen Hochwasserschutzmaßnahmen nur zögerlich in Angriff genommen werden. Nicht selten verhindern Bürgerproteste, dass Überflutungsflächen geschaffen und die Deiche versetzt oder verstärkt werden können – überall in der Republik. So hat es in den letzten 20 Jahren nicht nur an der Oder sondern auch an Elbe, Donau und Rhein viele ähnlich katastrophale Überschwemmungen gegeben. Und in Zeiten des Klimawandels wird man zukünftig wohl eher von einem "Jahrhundert der Fluten" sprechen müssen.