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Vor 200 Jahren
Norwegen verabschiedet seine erste Verfassung

Meinungsfreiheit, Rechtsstaat, ein gewähltes Parlament - für die meisten Europäer im frühen 19. Jahrhundert waren das Fremdworte. In der Zeit der Restauration herrschten Zensur und Obrigkeitsstaat. Eine umso bemerkenswertere Ausnahme war die Verfassung, die sich die Norweger heute vor 200 Jahren gaben.

Von Winfried Dolderer | 17.05.2014
    Die Fahne von Norwegen weht im Wind auf einer Fähre unweit der nordnorwegischen Stadt Bodø am Europäischen Nordmeer, aufgenommen am 21.07.2011.
    Norwegen hat die älteste noch gültige Verfassung Europas. (picture alliance / ZB)
    "Gewiss stehen wir beim Anblick des norwegischen Befreiungswerkes vor einem der ergreifendsten, überraschendsten und vielleicht auch fruchtbarsten Ereignisse der Weltgeschichte."
    So blickte ein gutes Vierteljahrhundert später der national-romantische Dichter Henrik Wergeland auf den 17. Mai 1814 zurück. Den Tag, an dem Norwegen eine Verfassung und einen eigenen Monarchen erhielt. Zwar blieb der dänische Prinz Christian Frederik nur König für ein halbes Jahr. Doch das Grundgesetz, das die 112 Deputierten der Nationalversammlung auf dem entlegenen Landgut Eidsvoll in nur fünf Wochen erarbeiteten, hatte Bestand. Bis heute ist es die älteste noch gültige Verfassung Europas. Damals war es ein revolutionäres Fanal.
    Älteste noch gültige Verfassung Europas
    "Pressfreiheit soll stattfinden. Keiner kann für irgendeine Schrift, die er hat drucken oder herausgeben lassen, welchen Inhalts sie auch sei, bestraft werden. Freimütige Äußerungen über die Staatsführung und jeden beliebigen anderen Gegenstand sind jedem erlaubt."
    Wo sonst im Europa der beginnenden Restaurationsepoche gab es ein solches Maß an staatlich garantierter Bürgerfreiheit? Rechtssicherheit, Gewerbefreiheit, Schutz des Eigentums und der Privatsphäre: Das war der "Geist dieser Konstitution", den die Verfassungsväter in Eidsvoll für unveränderlich erklärten. Das Parlament hatte das letzte Wort über Gesetzgebung, Steuern und Finanzen. Der König konnte eine Entscheidung aufschieben, aber nicht verhindern. Fast die Hälfte der männlichen Bevölkerung über 25 war wahlberechtigt. Das norwegische Storting war damit von Anfang an breiter demokratisch legitimiert als andere Parlamente der Zeit. Einer der Teilnehmer der Versammlung von Eidsvoll, der Jurist und Beamte Gustav Peter Blom, gratulierte rückblickend sich und seinen Kollegen:
    "Ein jeder erkennt jetzt, dass das Jahr 1814 das segensvollste in der Geschichte Norwegens war."
    Patrioten waren empört
    Danach hatte es zunächst nicht ausgesehen. Seit 434 Jahren hatte Norwegen unter dänischer Herrschaft gestanden. Und in den Kriegen gegen Napoleon hatte sich Dänemark auf die falsche Seite geschlagen, die des letztlich unterlegenen Franzosenkaisers. Im Frieden von Kiel im Januar 1814 musste der dänische König Norwegen an Schweden abtreten, dessen Kronprinz Carl Johan sich diesen Preis für die Teilnahme am Kampf gegen Napoleon ausbedungen hatte. Norwegens Patrioten waren empört. Und Prinz Christian Frederik, seit 1813 dänischer Statthalter im Land, ließ sich mit ihnen auf einen Tauschhandel ein. Er wollte eine verfassunggebende Versammlung einberufen, wenn diese ihn dafür zum König wählte. So geschah es. Der Historiker Knut Mykland:
    "Dass die Norweger sich in aller Seelenruhe und ohne Druck von außen ihren eigenen Staat aufbauen konnten, lag daran, dass Carl Johan von Schweden nach dem Frieden von Kiel am Krieg gegen Napoleon teilnehmen musste. Er konnte sich nicht um Norwegen kümmern."
    Union mit Schweden ein Gewinn
    Doch im Sommer war Carl Johann mit seiner Armee zurück. Derweil hatten die Norweger in England um Verständnis für ihren Wunsch nach Unabhängigkeit geworben. Doch die mit Schweden verbündeten Briten hatten Carl Johan den Besitz Norwegens zugesagt und dachten nicht daran, davon abzurücken. König Christian Frederik stand auf verlorenem Posten. Zwei Wochen lang kam es zu Scharmützeln zwischen schwedischen und norwegischen Truppen. Am Ende stand ein Kompromiss: Christian Frederik dankte ab, die Norweger akzeptierten den schwedischen König, dafür erkannte dieser die Verfassung von Eidsvoll an. Staatsrechtlich war das ein erheblicher Gewinn. Die Union mit Schweden beruhte nun nicht mehr auf dem Kieler Frieden, also dem Recht des Siegers, sondern auf dem Prinzip der Volkssouveränität. Sodass der Verfassungsvater Blom mit Stolz feststellen konnte,
    "dass kein Reich in einem Unionsstaate freier und unabhängiger sein kann als Norwegen es ist."
    Immer wieder versuchten schwedische Könige, dem norwegischen Parlament, dem Christiania, dem heutigen Oslo, ein Stück von seiner Macht abzutrotzen. Das Storting ging aus diesen oft langwierigen Konflikten in der Regel als Sieger hervor. Und im Juni 1905 kündigte es schließlich die Union mit Schweden. Der Tag von Eidsvoll, der 17. Mai, wird seit 1836 alljährlich offiziell gefeiert – als einer der weltweit ältesten Nationalfeiertage.