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Vor 25 Jahren
Als Andorra eine Verfassung bekam

Keine Gewaltenteilung, keine Verfassung - Mitte des 20. Jahrhunderts war Andorra ein Paradies für Steuerflüchtlinge, in dem 65.000 Menschen abgeschieden lebten. Die Enklave stand unter dem Protektorat von Frankreich und Spanien, bis die Andorraner 1993 für eine demokratische Konstitution stimmten.

Von Christoph Goldmann | 14.03.2018
    Die Nationalflagge von Andorra weht neben Häusern der Hauptstadt Andorra la Vella, im Hintergrund sind die Pyrenäen zu erkennen. Aufnahme vom 01.09.2005.
    Am 14. März 1993 stimmten 74,2 Prozent der wahlberechtigten Andorraner für eine demokratische Konstitution (dpa / Lehtikuva Oy)
    Zwischen den beiden größten Nationen Europas, Spanien und Frankreich, ist der Zwergstaat Andorra nur ein winziger Fleck. In 50 Minuten hat man mit dem Auto das Land in den Hochpyrenäen mit seinen herrlichen Berglandschaften, tiefen Tälern und glitzernden Seen durchquert.
    Jahrhundertelang war das kleine Fürstentum eine Enklave mit wenigen tausend, katalanisch sprechenden Einwohnern - im Sommer bis zu vierzig Grad warm, im Winter monatelang eingeschneit.
    Wintersport- und Steuerparadies
    "Früher stapften wir hier drei oder vier Monate im Jahr durch kniehohen Schnee. Wir waren nur wenige Menschen. Das Leben hier war nicht einfach."
    Der Portugiese Agostino Dias Armada war einer der ersten Einwanderer, die es in den 60er Jahren nach Andorra zog. Das boomende Land brauchte Arbeitskräfte.
    Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich das Wintersport- und Steuerparadies, Tagesausflugsziel zum Einkauf von billigen Zigaretten und Alkohol, zum Touristenmagneten. Ende des 20. Jahrhunderts lebten rund 65.000 Menschen verschiedener Nationalität und Herkunft in Andorra. Aber das Land war immer noch ein feudales Fürstentum unter dem Protektorat von Frankreich und Spanien.
    Wahl für eine demokratische Konstitution
    Auch international wuchs der Druck, sich eine demokratische Verfassung zu geben. Am 14. März 1993 stimmten 74,2 Prozent der wahlberechtigten Andorraner für eine demokratische Konstitution - für Gewaltenteilung, die Schaffung eines Verfassungsgerichtes, diplomatische Vertretungen im Ausland. Als eines der letzten Länder der Welt erlangte Andorra damit staatliche Souveränität in Form einer parlamentarischen Republik.
    Eva Arasa, Sprecherin der andorranischen Regierung: "Der Platz hier vor dem Parlamentsgebäude beschreibt den Übergang von der Tradition zur Moderne. Denn dort, zu unserer Linken, sehen wir die Casa de la Vall. Ein Gebäude, das die Andorraner verehren, denn es verkörpert die Geschichte unseres Landes. Und hier auf der anderen Seite, das neue Parlamentsgebäude und davor das Denkmal, das an die neue Verfassung erinnert. Eine offene Menschensilhouette in einem Eisenblock. In der neueren Geschichte Andorras ist die Verabschiedung der neuen Verfassung der wichtigste Moment."
    Nur etwa 28 Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt
    Heute ist die Casa de la Vall, das einst kleinste Parlament der Welt, ein Museum. Hier hatten über Jahrhunderte hinweg die Oberhäupter der mächtigsten andorranischen Familien ihre Angelegenheiten unter sich ausgehandelt. Die je zwei Delegierten, die aus den sieben Talgemeinden zu Pferd anreisten, mussten sich bei schlechtem Wetter ein Doppelbett teilen. Heute finden die Sitzungen im neuen Parlamentsgebäude statt.
    Die Parlamentarier aber vertreten eine Minderheit. Bis heute besitzen nur etwa 28 Prozent der Bevölkerung einen andorranischen Pass und damit das Wahlrecht. Darauf müssen die oft seit Jahrzehnten in Andorra wohnhaften Spanier, Franzosen und Portugiesen verzichten.
    David Borges, Präsident der Interessenvertretung von mehr als aktuell 12.000 in Andorra lebenden Portugiesen: "Wir dürfen rein gar nichts wählen. Weder bei den Kommunal- noch bei den Präsidentschaftswahlen. Wir sind Residenten, keine Staatsbürger. Aber die Andorraner haben uns sehr gelobt. Auch wir haben Andorra aufgebaut."
    Zahl der Wähler hat sich verdoppelt
    Die wirtschaftliche und touristische Explosion Andorras wäre ohne die ausländischen Arbeitskräfte undenkbar gewesen. Sie arbeiten in den Hotels, auf den Skipisten, in den hypermodernen Wellnesstempeln, in den unzähligen Shoppingmalls.
    "Als die andorranische Verfassung geschaffen wurde, gab es nur etwa 8000 Wähler. Heute sind es doppelt so viele. Und viele dieser Andorraner sind eingebürgerte Kinder von Immigranten. Diese Menschen wollen heute auch am politischen Leben teilnehmen. Und sie erwarten auch von den Parteien, dass sie sich verändern. Und Andorra verändert sich."
    So wurde kürzlich ein sehr eingeschränktes Streikrecht beschlossen, und erstmals dürfen auch Nicht-Andorraner ihr eigenes Geschäft eröffnen. Nur eines bleibt wohl bis auf weiteres wie es immer war: Andorra hat nach wie vor keinen Rüstungsetat. Dafür darf jedes andorranische Familienoberhaupt weiterhin eine Waffe unter seinem Kissen haben.