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Vor 25 Jahren
Freilassung des chinesischen Dissidenten Xu Wenli

Xu Wenli war einer der Gründer der chinesischen Demokratiebewegung und wurde deshalb wiederholt inhaftiert. 1993 saß er schon zehn Jahre in Haft, als sich die USA für seine Freilassung einsetzten und erreichten, dass er am 26. Mai 1993 vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurde.

Von Ruth Kirchner | 26.05.2018
    Die chinesische Polizei hat am 30.11.1998 vier führende Mitglieder der oppositionellen Demokratischen Partei festgenommen, die offiziell als illegal eingestuft wird. Darunter ist auch der prominente chinesische Dissident Xu Wenli (Archivbild vom 26.5.1993). Der 56-Jährige ist eine Symbolfigur in der chinesischen Dissidenten-Szene. Anders als bei früheren Festnahmen sei Xu Wenli formell unter Hinweis auf das Gesetz festgenommen worden, berichtete seine Frau in Peking.
    Der chinesische Dissident Xu Wenli (DPA / epa_/ AFP)
    Das Fax aus Peking kam in den frühen Morgenstunden des 26. Mai 1993. Der Staatsrat, Chinas Kabinett, ließ mitteilen, dass Xu Wenli, Chinas "Sonderhäftling Nummer 1" um 10 Uhr vorzeitig aus der Haft entlassen wird. Ein Riesenerfolg für den ehemaligen amerikanischen Geschäftsmann John Kamm, der sich für politische Gefangene in China einsetzt und wie kein anderer über hochrangige Kontakte in Peking verfügt. Seine Dui-Hua-Stiftung in San Francisco hat über die Jahre für hunderte chinesische Gefangene Hafterleichterungen oder vorzeitige Entlassungen erreicht.
    "Es war sehr klar, von Anfang an, dass diese Freilassung aus politischen Gründen erfolgte. Ich bin Geschäftsmann, ich weiß, wie man Geschäfte macht." Das Geschäft 1993: US-Präsident Bill Clinton stand kurz vor der Entscheidung, Chinas Handelsprivilegien, die sogenannte Meistbegünstigungsklausel, zu verlängern. Immens wichtig für China und daher für Kamm eine gute Gelegenheit, Peking im Fall Xu Zugeständnisse abzuringen.
    "Clinton hätte vermutlich die Handelsprivilegien so oder so verlängert. Aber die Frage war, was bekommen wir im Gegenzug. Es war wirklich so einfach."
    Kämpfer für Freiheit und Demokratie
    1993 saß Xu bereits seit über zehn Jahren wegen der "Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda" im Gefängnis, einer der prominentesten politischen Häftlinge Chinas. Xu stammt aus der südostchinesischen Provinz Anhui, hatte in der Volksbefreiungsarmee gedient, sich im Selbststudium mit Philosophie, Geschichte und Literatur beschäftigt. Ein unabhängiger Denker, der sich sein Leben lang für Freiheit und Demokratie einsetzte. Auch seine Haftstrafen konnten seinen Willen nie brechen, wie er sich später erinnerte:
    "Wenn ich jemals meinen Einsatz für Demokratie und Freiheit aufgeben würde, dann wäre doch meine Zeit im Gefängnis völlig sinnlos gewesen."
    Xu war im sogenannten Pekinger Frühling, einer kurzen Phase der Liberalisierung Ende der 70er-Jahre, zu einer Schlüsselfigur geworden. Nach dem Tod Maos, dem Ende der Kulturrevolution und dem langsamen Beginn der Öffnung Chinas entstand die Bewegung "Mauer der Demokratie", benannt nach einer etwa 100 Meter langen, grauen Ziegelmauer im Zentrum Pekings, beklebt mit Wandzeitungen, mit Klagen über erlittenes Unrecht und Forderungen nach politischen Freiheiten.
    Filmaufnahmen von damals zeigen Menschen, die sich vor der "Mauer der Demokratie" drängen und mit ernsten Gesichtern die meist handgeschriebenen Aufrufe lesen. Viele tragen noch die blaue Mao-Kluft. Xu war einer der Organisatoren der Debatten und Chefredakteur des "Forum 5. April", einer kleinen, einflussreichen Oppositionszeitschrift. Die Kommunistische Partei ließ die Aktivisten einige Monate gewähren. Doch im Frühjahr 1979 begannen die ersten Verhaftungen. Als Xu und seine Mitstreiter dann noch eine Oppositionspartei gründen wollten, war endgültig Schluss. 1981 wurde auch er verhaftet und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.
    Handelsvorteile für die Freilassung eines politischen Häftlings
    Zwölf Jahre später, im Jahr seiner Freilassung, hatte sich die Lage verschärft. Nach der Niederschlagung der Demokratieproteste von 1989 herrschte Eiszeit in China, doch wirtschaftlich ging es aufwärts. Schon deshalb wollte Peking seine Handelsvorteile in den USA nicht verlieren, brauchte dafür ein wohlwollendes Klima in Washington. Die Freilassung von Xu Wenli am 26. Mai 1993 erfüllte genau diesen Zweck. Zwei Tage später trat Präsident Clinton vor die Presse:
    "Ich habe wie alle meine Vorgänger seit 1980 entschieden, die Meistbegünstigungsklausel für China um ein Jahr zu verlängern. Wir glauben, das ist der beste Weg, um China weiter in die internationale Gemeinschaft zu integrieren und unsere Interessen und Ideale zu sichern."
    Handelsvorteile für die Freilassung eines prominenten politischen Häftlings. Xu Wenli hat dieser Deal ein paar Jahre in Freiheit beschert. Er gründete erneut eine Oppositionspartei, landete wieder im Gefängnis. Erst 2002 konnte Xu in die USA ausreisen. Aber wie viele Exilanten verlor auch Xu in den USA schnell an Einfluss. Heute lebt der 74-Jährige, einst zentrale Figur in einem politischen Pokerspiel, zurückgezogen an der amerikanischen Ostküste.