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Vor 25 Jahren
Rechter Mob in Rostock-Lichtenhagen

Im August 1992 werden in Rostock-Lichtenhagen wehrlose Asylbewerber von mehreren hundert Randalierern, darunter zahlreiche Rechtsextremisten, unter dem Beifall von tausenden Zuschauern tagelang attackiert. Es sind die bis dahin massivsten rassistisch motivierten Angriffe in der Bundesrepublik.

Von Rainer Link | 22.08.2017
    Rostock-Lichtenhagen
    Die mit der Situation überforderte Polizei zog sich auf dem Höhepunkt der Angriffe zeitweise zurück, sodass die Asylbewerber in ihrem brennenden Wohnheim in Lebensgefahr gerieten. (dpa)
    Der 22. August 1992 ist ein warmer Spätsommertag im Rostocker Neubau-Stadtteil Lichtenhagen. Eine johlende Menge protestiert vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber, die sich mitten im Wohngebiet befindet und völlig überfüllt ist. An den Ausschreitungen beteiligten sich hunderte rechtsextreme Randalierer, aber auch tausende applaudierende Zuschauer aus der Nachbarschaft.
    Die Wut des Mobs
    "Wir sind arbeitslos und müssen mit wenig Geld auskommen. Aber die ramschen, die holen sich alles ran. Schon wieder sind neue Busse mit denen da. Die sollen hier raus. Raus mit denen, nur raus!"
    "Hier kommen die Asylanten rein und verunreinigen die Wohnung. Die haben doch gar keine Kultur."
    "Das sind richtige Zigeuner, die haben Lagerfeuer gemacht ... die waren in den Mülltonnen an den Containern drinnen."
    "Die saufen und kriegen jede Menge Geld vom Staat und saufen und alles."
    Imbiss und Getränke für die Randalierer
    In unmittelbarer Umgebung wurden Imbiss- und Getränkestände aufgebaut, bei denen sich Gewalttäter und Zuschauer mit Alkohol versorgten. Gegen Abend begannen Randalierer, Betonplatten zu zertrümmern. Mehrere hundert Jugendliche und Erwachsene warfen die Brocken als Geschosse auf die benachbarte Asylbewerberunterkunft.
    Immer wieder gelang es den Steinewerfern, in der Zuschauermenge unterzutauchen. 30 Polizeibeamte, die ohne Schutzkleidung erschienen waren, konnten gegen die Angreifer nichts ausrichten. Sie wurden ebenfalls attackiert und waren damit beschäftigt, sich selbst zu schützen. Den Asylbewerbern konnten sie nicht beistehen.
    Asylbewerber ohne Schutz
    In den Tagen vor den Krawallen hatte es dramatische Szenen vor der Asylbewerberunterkunft gegeben. Sie war überfüllt und ankommende Flüchtlinge wurden abgewiesen, standen buchstäblich auf der Straße. Das Land Mecklenburg-Vorpommern und die Stadt Rostock stritten um die Frage, wer für die Asylbewerber verantwortlich sei. Das hatte zur Folge, dass die Menschen ohne jede Versorgung auf der Wiese vor der Unterkunft kampierten. Sie hatten keine Nahrung, keine Decken, keine Toiletten und keinerlei Schutz.
    Auch an den nächsten zwei Tagen gingen die Attacken auf die Asylunterkunft weiter. Neonazis aus ganz Deutschland reisten an und übernahmen die Regie bei den immer brutaler werdenden Angriffen. Die Polizei - jetzt um einige Einheiten verstärkt - konnte die Menschen und das Gebäude dennoch nicht schützen. Schließlich wurden die Asylbewerber mit Bussen evakuiert. Aber auch dies führte nicht zur Beruhigung der Lage. Die Aggression richtete sich jetzt gegen ein benachbartes Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter. In diesem Gebäude hielten sich rund 100 Vietnamesen, ein Fernsehteam des ZDF und der Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter auf.
    Die Polizei zieht sich zurück
    Die Polizei - so ergab die spätere Rekonstruktion des Funkverkehrs - zog sich während der tobenden Angriffe auf die Vietnamesen zurück.
    Zugführer: "Frage: Sollen wir jetzt tatsächlich den Einsatz abbrechen oder hierbleiben?" Einsatzleiter: "Den Einsatz abbrechen!"
    Schichtwechsel wegen Erschöpfung - so die späteren Rechtfertigungsversuche der Polizeiführung. Mit Molotowcocktails wurde das Haus in Brand gesteckt. In Todesangst liefen die Vietnamesen Stockwerk um Stockwerk höher, die Flammen folgten ihnen. Panik brach aus. Der Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter erreichte schließlich per Telefon die Einsatzzentrale der Polizei:
    "Hier sind 115 Vietnamesen, die Polizei hat sich zurückgezogen. Die Chaoten haben unten das Haus angesteckt. Die Gase kommen schon hoch und die kämpfen sich Stockwerk um Stockwerk hoch."
    Schließlich gelang es den Vietnamesen gegen 22:50 Uhr, eine Stahltür zu öffnen und über das Dach zu entkommen.
    Innenminister wies die Vorwürfe zurück
    Die Aufarbeitung der dramatischen Ereignisse in Mecklenburg-Vorpommern verlief zäh. Innenminister Lothar Kupfer, CDU, wies die Verantwortung weit von sich:
    "Unsere Polizei ist eine Polizei im Aufbau. Jeder weiß das. Nur Böswilligkeit kann deshalb Pate stehen, wenn von uns verlangt wird, Ausschreitungen sofort und überall zu widerstehen, deren Potential an Vernichtungswillen und krimineller Energie Hamburg, Brokdorf oder die Startbahn West deutlich übersteigt."
    Nachdem jedoch immer mehr belastende Details des Polizeiversagens an die Öffentlichkeit drangen, wurde Innenminister Kupfer im Februar 1993 entlassen.
    Zugeständnis an die rechte Gewalt?
    Rostock-Lichtenhagen war nur ein Fall von vielen Übergriffen auf Flüchtlinge, die seit den frühen 90-er Jahren stattfanden. Im Mai 1993 wurde - angesichts hoher Asylbewerberzahlen - das Grundgesetz geändert. Durch die Neufassung des Artikels 16 wurden die Möglichkeiten stark eingeschränkt, sich auf das Grundrecht auf Asyl zu berufen. CDU/CSU, FDP und eine Mehrheit der SPD verstanden die Abschaffung des alten Grundrechtes auf Asyl auch als Antwort auf die zunehmende Radikalisierung des rechten Spektrums.