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Vor 275 Jahren wurde Moses Mendelssohn geboren

Mai 1780. Einige orthodoxe Rabbiner treffen sich in der jüdischen Ge-meinde einer deutschen Stadt.

Von Anna Gann | 06.09.2004
    Blasphemie

    wettert der eine.

    Verrat an der jüdischen Tradition

    schimpft der andere. Der dritte bringt auf den Punkt, was alle denken:

    Wer reines Deutsch lernt, wird bald das Joch der Gebote abwerfen.

    Der Zorn richtet sich gegen Moses Mendelssohn in Berlin. Obwohl Jude, hat er es gewagt, die Tora, die fünf Bücher Mose, vom Hebräischen ins Deutsche zu übersetzen. Damit Juden sie lesen und verstehen können, hat er die Ausgabe sogar in hebräischen Buchstaben drucken lassen.

    Doch vielen, die ihn kennen, erscheint er ganz und gar nicht wie ein Umstürzler: ein kleiner Mann mit Buckel, der beim Sprechen leicht stot-tert. Eigentlich verdient er als Seidenfabrikant den Lebensunterhalt für seine achtköpfige Familie. Als er von den Vorwürfen hört, reagiert er gelassen:

    Wenn meine Übersetzung von allen Juden ohne Widerrede aufgenommen werden sollte, so wäre sie überflüssig. Je mehr sich die so genannten "Weisen" der Zeit widersetzen, desto nötiger ist sie.

    Moses Mendelssohn hätte sich nicht träumen lassen, dass er eine grund-legende Entwicklung anstoßen würde. Gut 20 Jahre später führten jüdi-sche Reformer die deutsche Sprache und die Orgel in den Gottesdienst ein, bis dahin ein rein christliches Instrument. Dabei beriefen sie sich auch auf Mendelssohn. Heute ist das Reformjudentum die bestimmende jüdische Richtung.

    Moses Mendelssohn wurde wohl am 6. September 1729 geboren, auch wenn als Geburtsdatum manchmal der 17.August genannt wird. Der Sohn eines armen Toraschreibers aus Dessau steht nicht nur für die Öffnung des Ju-dentums. Er gilt auch als Vorreiter für Glaubensfreiheit und Toleranz.

    Leidenschaftlich redete er den Herrschenden ins Gewissen: sie sollen allen Religionen gleiche Rechte geben. In einem seiner Hauptwerke - "Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum" – schrieb er:

    Wer die öffentliche Glückseligkeit nicht stört, wer gegen die bürger-lichen Gesetze, gegen Euch und gegen seine Mitbürger rechtschaffen han-delt, den lasset sprechen wie er denkt, Gott anrufen nach seiner oder seiner Väter Weise, und sein ewiges Heil suchen, wo er es zu finden glaubt. Wenn wir dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, so gebet Ihr selbst Gott, was Gottes ist!

    Heute wäre das eine demokratische Begründung der Religionsfreiheit. In der weitgehend monarchischen 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts klang es geradezu visionär. Von den großen Denkern seiner Zeit erhielt Mendels-sohn begeisterten Beifall, zum Beispiel von Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant. Dieser ließ ihn zu seinem Werk "Jerusalem" wissen:

    Ich halte dieses Buch für die Verkündigung einer großen, obzwar lang-sam bevorstehenden und fortrückenden Reform, die nicht allein Ihre Na-tion, sondern auch andere treffen wird.

    Mendelssohn argumentierte aus eigener bitterer Erfahrung. Zwar war er für Viele das leuchtende Beispiel eines emanzipierten Juden. Doch es schmerzte ihn Zeit seines Lebens, daß ihm das Universitätsstudium wegen seiner Religion versperrt blieb.

    Er hatte nur Hebräisch und Jiddisch gelernt, erwarb sich als Autodidakt philosophische Kenntnisse, lernte außer Hochdeutsch auch Englisch und Französisch, Griechisch und Latein. Ein Aufenthaltsrecht in Preußen er-hielt er erst 1763, nachdem er als Philosoph bereits zu Ruhm gekommen war.

    Gegen die gesellschaftliche Benachteiligung der Juden setzte er seine Überzeugung: Alle Religionen sind gleichwertig und gleichberechtigt, keine Glaubensgemeinschaft darf sich über die andere erheben.

    Da die Menschen alle von ihrem Schöpfer zur ewigen Glückseligkeit be-stimmt sein müssen, so kann eine ausschließende Religion nicht die wah-re sein. ... Eine Offenbarung, die allein die Seligmachende sein will, kann nicht die wahre sein, denn sie harmoniert nicht mit den Absichten des Schöpfers.

    Der "deutsche Sokrates", wie Moses Mendelssohn auch genannt wurde, starb 1786, im Alter von 56 Jahren. Vor allem auf den Theaterbühnen lebt er weiter. Denn sein enger Freund, der protestantische Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing, hatte ihn vor Augen, als er "Nathan den Weisen" erfand - den klugen und gütigen Juden der Weltliteratur. Dessen überzeugtes Plädoyer für ein geschwisterliches Miteinander der Religionen ist auch heute hochaktuell.