Dienstag, 23. April 2024

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Vor 300 Jahren

Ach, der Ruhm: Da lebt einer 60, 70 Jahre auf Erden und komponiert an die 600 Werke - und kaum ist er gestorben, redet keiner mehr von ihm. Aus, vorbei und vergessen: ein flüchtiger Schatten der Musikgeschichte. Zweihundert Jahre vergehen, bis erstmals einer wieder seinen Namen nennt, und dann noch einmal fünfzig Jahre, bis ihn die Schallplatte entdeckt. Und jetzt plötzlich - mit der Aufnahme eines einzigen Werkes - blasen die Trompeten des Ruhmes so laut, dass man sie in ganz Europa hört...

24.02.2004
    Das Te Deum von Marc-Antoine Charpentier. Die erste, 1953 erschienene Aufnahme des Werkes ist ein solcher Erfolg, dass das Fernsehen ihren Beginn zur offiziellen Eurovisions-Fanfare erhebt. Fortan (und bis heute) gehören diese acht Takte zwar zu den populärsten und meistgespielten Musikstücken überhaupt; gemessen aber am Reichtum und an der Schönheit seines Oeuvres ist dieser Ruhm ihres Komponisten kaum mehr als ein Almosen - ebenso karg wie das, was man über ihn weiß. Es ist nicht einmal genau bekannt, wann Marc-Antoine Charpentier geboren wurde - vermutlich 1643 in Paris, als Spross jedenfalls einer Künstlerfamilie. Mit zwanzig begibt er sich nach Rom, um dort Malerei zu studieren, wendet sich aber der Musik zu und wird Schüler Giacomo Carissimis. Ein paar Jahre später ist er wieder in Paris und beginnt seine Karriere mit einem Paukenschlag: Der große Moliere hat sich mit seinem Komponisten Jean-Baptiste Lully zerstritten und bietet (auf Empfehlung eines Freundes) dem noch völlig unbekannten Charpentier 1672 an, die Musik zu seiner nächsten Komödie zu schreiben: Le Malade imaginaire, "Der eingebildete Kranke".

    Ein Erfolg, der unter seiner strahlenden Hülle freilich ein bitteres Gift verbirgt: Zum einen bleibt es Charpentiers einzige Zusammenarbeit mit Moliere, der während einer Aufführung seines letzten Stückes auf der Bühne zusammenbricht und wenig später stirbt, zum anderen verfolgt Lully - erster Hofkomponist des "Sonnenkönigs" Louis XIV. - den elf Jahre jüngeren Kollegen fünfzehn Jahre lang (bis zu seinem Tod im Jahre 1687) mit seiner Eifersucht und verstellt ihm jeden Zugang zum Hof; selbst die Protektion so mächtiger Gönner wie des Dauphins oder Mademoiselle de Guises vermag nichts gegen Lullys Intrigen. Charpentier nimmt eine Stelle als Kapellmeister und Musiklehrer am Jesuiten-College Louis-le-Grand an, in dessen Dienst die meisten seiner rund 500 Kirchenwerke entstehen - auch das Te Deum; kaum eines von ihnen wird gedruckt. Bescheiden und zurückgezogen lebt er für seine Kunst, wird wohl geachtet und geehrt, und bleibt doch fern von jenem Glanz, wie ihn nur das Umfeld des Königs gewährt. Auch seine Berufung an die Sainte-Chapelle (im Jahre 1698) ändert nichts daran, dass Marc-Antoine Charpentier eine marginale Rolle im Musikleben spielt - wie er selbst in einer zwischen Ironie und Wut schwankenden Kantate kund tut, die er Epitaphium Carpentarii nennt, "Charpentiers Grabspruch":

    Ein Musiker war ich, galt Gutes bei den Guten und wurde von den Ignoranten ignoriert. Und da die Zahl derer, die mich verachteten, sehr viel größer war als die jener, die mich lobten, brachte mir die Musik nur wenig Ehre ein, aber um so mehr Mühsal.

    Vor 300 Jahren - am 24.Februar 1704 - stirbt Marc-Antoine Charpentier in Paris - und fällt dem Vergessen anheim, bis Camille Saint-Saëns 1892 seine Bühnenmusik zu Molieres Malade imaginaire wieder entdeckt und aufführt; inzwischen freilich ist sein Nachruhm (als Großmeister des französischen Barock) umfassend und dauerhaft, seit die historische Aufführungspraxis sich seiner Musik angenommen hat und die Zahl derer, die ihn loben, alle Ignoranten und Verächter seiner Meisterschaft verstummen ließ.