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Vor 50 Jahren
Das legendäre "Wembley-Tor" fällt

Keine Entscheidung hat im Fußball für so viel Aufregung gesorgt wie das berühmte Wembley-Tor: das 3:2 der Engländer im WM-Finale 1966 gegen die Deutschen. Bis heute halten die Diskussionen darüber an, ob der Ball im Tor war oder nicht. Dies wurde sogar Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten.

Von Wolf-Sören Treusch | 30.07.2016
    Das umstrittene Tor des englischen Stürmers Geoff Hurst (nicht im Bild) im Finale Deutschland gegen England bei der Fußball-WM 1966 am 30. Juli im Londoner Wembley-Stadion.
    Bis heute ist umstritten, ob das sogenannte Wembley-Tor ein gültiger Treffer war oder nicht. (picture alliance / dpa)
    "Achtung, Achtung!"
    Es ist der 30. Juli 1966, kurz nach fünf Uhr Ortszeit.
    "Nicht im Tor, kein Tor!"
    Als der Ball von der Unterkante der Latte auf die Torlinie zurückprallt.
    "Oder doch. Jetzt: Was entscheidet der Linienrichter?"
    Und ein Tor im Londoner Wembley-Stadion Fußballgeschichte schreibt.
    "Tor."
    Im Fernsehen kommentiert Rudi Michel das Tor der Engländer zum 3:2 gegen Deutschland im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1966.
    "Oh, ist das bitter."
    Bis heute ist das sogenannte Wembley-Tor das umstrittenste Tor in der Geschichte des Fußballs.
    "Niemand weiß, ob der Ball die Torlinie überschritten hat oder nicht", sagt Englands Star Bobby Charlton. Deutschlands Ersatzspieler Max Lorenz dagegen ist überzeugt.
    "Der Ball war wirklich nicht drin. Wir haben es doch alle gesehen."
    Bis 20 Sekunden vor Ende der regulären Spielzeit führen die Engländer 2:1. Die Zuschauer feiern schon den WM-Titel, dann erzielen die Deutschen den Ausgleich. Im Radio kommentiert Herbert Zimmermann das Spiel.
    "Emmerich schießt, er schießt an, und Held schießt nach, und noch einmal Nachschuss und Tor! Tor für Deutschland durch Weber."
    Die Partie geht in die Verlängerung, in der 101. Spielminute wird sie zum modernen Fußballdrama. Geoff Hurst schießt aufs deutsche Tor, der Ball prallt gegen die Unterkante der Latte, von dort auf die Torlinie und wieder zurück ins Spiel, dann köpft ihn Wolfgang Weber ins Aus.
    Reporter Zimmermann: "Da kommt eine Flanke nach innen, die Engländer haben eine Schusschance, und: kein Tor, kein Tor."
    Englischer Reporter: "Yes, no, no, the linesman says no.”
    Zimmermann: "Der Ball prallt von der Querlatte ab, Schiedsrichter Dienst ist zum Linienrichter gegangen, ... "
    Schiedsrichter Dienst: "Dann habe ich ihn befragt, ob der Ball im Tor war, ob es Tor ist, und er hat mir ostentativ erklärt: 'It's goal, goal, goal'."
    Englischer Reporter: "It's a goal.”
    Zimmermann: "Nein, der Linienrichter gibt Tor, er hat den Ball im Netz gesehen."
    Ein magischer Moment
    Im Netz war er natürlich nicht. Aber hatte er beim Rückprall von der Latte vielleicht doch die Torlinie überschritten? Ein magischer Moment, um den sich bis heute viele Legenden ranken. Zum Beispiel die des Schweizer Schiedsrichters Gottfried Dienst.
    "Wenn der Weber den Ball irgendwie seitwärts vom Linienrichter abgewandt geköpft hätte, hätte ich wahrscheinlich keine Veranlassung gehabt, zum Linienrichter zu schauen."
    Der sowjetische Linienrichter Tofik Bahramov, der, auch so eine Legende, nach dem Spiel einem Journalisten gesagt haben soll, er habe die Szene eigentlich gar nicht genau gesehen. Der deutsche Torwart habe nur so untröstlich gewirkt, deshalb musste der Ball wohl hinter der Linie gewesen sein.
    Mehrfach ist das Wembley-Tor auch wissenschaftlich untersucht worden. Mit dem Ergebnis: Der Ball war wohl eher nicht drin. Fazit des Fußball-Historikers Dietrich Schulze-Marmeling:
    "Man wird es nie aufklären, und das ist auch gut so."
    Am Ende verlieren die Deutschen mit 2:4. Franz Beckenbauer und Max Lorenz:
    "Also, ich war fix und fertig, anders ausgedrückt: Mir war es eigentlich völlig wurscht, wie dieses Spiel ausging, ich war nur froh, dass der Schiedsrichter endlich abgepfiffen hat."
    "Wir waren natürlich geknickt, das ist ganz klar. Aber wir haben noch einen wunderschönen Abend gehabt. Wir haben nicht nur geheult, da kamen Tränen, das ist auch klar, und um zu vergessen, haben wir uns dann schön einen gekauft."
    Größe in der Niederlage
    In der Niederlage aber zeigen die Deutschen Größe. Eine Haltung, die ihnen weltweit Ansehen verschafft. Mittelfeldspieler Wolfgang Overath.
    "Es war eine Tatsachenentscheidung, und wir haben, glaube ich, uns sehr, sehr fair verhalten, und oft ist das wichtiger als vielleicht der eine oder andere Sieg."
    "Die Absperrungen sind schon lange kein Hindernis mehr für die begeisterten Berliner Fußballanhänger, ... "
    Zuhause werden die Nationalspieler nach ihrer Rückkehr wie Popstars gefeiert. Zum Beispiel in West-Berlin.
    "Das ist Fußballbegeisterung in höchster Potenz, ... "
    Bundespräsident Heinrich Lübke, der in seiner Rede behauptet, er habe beim 3:2 den Ball "im Netz zappeln sehen", verleiht der Mannschaft die höchste sportliche Auszeichnung, die es in Deutschland gibt.
    "Das Silberne Lorbeerblatt soll immer daran erinnern, dass Sie eine große menschliche und sportliche Bewährungsprobe vorbildlich bestanden haben." (Applaus)
    "Und nun wird das Lorbeerblatt den einzelnen Spielern überreicht, und danach geht man hinüber in den Speiseraum, denn dort warten die Forellenfilets."
    Sogenannte Wembley-Tore wird es in Zukunft nicht mehr geben. Jedenfalls nicht bei großen Meisterschaften. Seit der Fußball-WM 2014 in Brasilien gilt der Videobeweis.