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Vor 50 Jahren: de Gaulles Rede an die deutsche Jugend

Frankreich und Deutschland hätten miteinander mehr Schul- und Städtepartnerschaften als mit irgendeinem anderen Land, sagt der Publizist Alfred Grosser. Er erinnert sich noch gut an Charles de Gaulles "Rede an die deutsche Jugend" in Ludwigsburg.

22.09.2012
    Peter Kapern: Soweit der Bericht von Anno Knüttgen, über den es 8:16 Uhr geworden ist. Welche Erinnerungen er an die Rede de Gaulles in Ludwigsburg hat, das habe ich vor der Sendung den Publizisten Alfred Grosser gefragt:

    Alfred Grosser: De Gaulle war ein wunderbarer Propagandist, er hat wunderbar gesprochen, aber der Beginn des Ganzen war am 9. Mai 1950 mit Robert Schuman. Und als de Gaulle nach Hause gefahren ist nach dieser Reise, schreibt handschriftlich der Kanzler Adenauer an Robert Schuman, dass er die ganze Zeit an ihn gedacht hat, weil er ja – Robert Schuman – am 9. Mai 1950 den Grundstein gelegt hat für die deutsch-französische Freundschaft und für das Europa, und das wird jetzt ein bisschen vergessen. Ich kann mich erinnern, ich hab aber auch den Text noch mal, also die Rede noch mal zwei Mal im Fernsehen gesehen in der letzten Zeit. Also er hat gut auf Deutsch auswendig gelernt, er kann einigermaßen Deutsch, weil man in Saint-Cyr, der Militärschule, wo er Offiziersanwärter war, lernte man die Sprache des Feindes, also Deutsch, und dann hat er viel mit einem Botschafter zusammengearbeitet, der ihn dann im Deutsch weitergebracht hat, und deswegen konnte er diese Rede – er hat immer auswendig geredet – konnte er diese Rede niederschreiben und auswendig lernen.

    Kapern: Diese Rede hat, wie heute zu lesen ist in Reflexionen darüber, wahre Begeisterungsstürme unter der deutschen Jugend ausgelöst. Das ist ja heute kaum noch verständlich – wie kam das?

    Grosser: Ja, also unter den Anwesenden. Aber die größte Begeisterung war in Wirklichkeit, als Charles de Gaulle auf derselben Reise erstens in Bonn war, auf dem großen Platz in Bonn war dieselbe Begeisterung, und dann war eine große Begeisterung in der Fabrik, Ruhr-Fabrik, der Stahlfabrik, die er besucht hat, und wo seine Rede begann mit "meine Herren", was völlig ungewöhnlich war für die Arbeiter, die angesprochen wurden als "Genossen" oder als "Sie da". Und die ganze Reise war voller Begeisterung, sodass, glaube ich, der "Spiegel" geschrieben hat, er kam als Präsident der Franzosen und fuhr heim als Kaiser von Europa. Die Begeisterung in Deutschland war wirklich größer als das, was bisher alles in den letzten 50 Jahren da gewesen ist.

    Kapern: Kann man definieren, was diese Reise de Gaulles in Bewegung gesetzt hat?

    Grosser: Es hat viel entwickelt. Um nur ein Beispiel zu geben, der deutsch-französische Vertrag im Élysée-Palast hatte nur zwei Inhalte, alles andere war Nebensache: Die ständige Begegnung der Chefs und das Deutsch-Französische Jugendwerk, dass das ausgebreitet, erweitert, und sehr schön erweitert hat, was es halt 1946 begonnen hatte. Also der Austausch, die Städtepartnerschaften beginnen Ende der 40er-Jahre, entwickeln sich in den 50er-Jahren, und de Gaulle hat sich da zu dem bekehrt, was er ganz energisch bekämpft hatte jahrelang: Alles, was europäisch war. [Er] hat sich bekehrt und hat Millionen von Franzosen und Deutsche mit bekehrt – das ist ein großer Verdienst.

    Kapern: Muss man eine solche Begeisterung heute noch einmal entfachen in den deutsch-französischen Beziehungen?

    Grosser: Man könnte, aber man könnte nicht. Man könnte heute in beiden Ländern die Euro-Skepsis nicht so leicht überwinden. Und diese Europa-Skepsis ist auch mitgetragen von einem enormen Unwissen über Europa, und die deutschen noch mehr als die französischen Medien tun nichts, um dieses Unwissen zu zerstreuen. Ich nehme ein Beispiel, die "Süddeutsche Zeitung", sie ist zugleich dafür, man muss die Rechte des Parlaments stärken – völlig einverstanden –, man ist also für ein parlamentarisches Regime, und sagt, man müsste eine Volksbefragung haben – mit welcher Frage übrigens? Und eine Volksbefragung ist genau das Gegenteil des parlamentarischen Regimes.

    Kapern: Wenn Sie, Herr Grosser, von Euro-Skepsis sprechen, so, wie Sie das jetzt mehrmals getan haben, was meinen Sie da genau? Meinen Sie eine Skepsis gegenüber der europäischen Einigung insgesamt oder meinen Sie eine Skepsis gegenüber der gemeinsamen Währung angesichts der Schwierigkeiten, in der sich diese Währung befindet?

    Grosser: Ja, genau, also vor allen Dingen in Deutschland, man weint der guten Deutschen Mark nach, aber wenn zum Beispiel Schäuble in einer hervorragenden Bundestagsrede im letzten Mai betont hat, was Deutschland alles verlieren würde, wenn es keinen Euro mehr geben würde, diese zwei Sätze standen nicht in beiden deutschen Zeitungen, die ich jeden Morgen lese, die "Süddeutsche" und die "Frankfurter Allgemeine". Es wird bestätigt, dass das arme Deutschland unter dem Euro leidet, das gute Deutschland hat mit dem Euro unwahrscheinlich viel gewonnen, wie übrigens mit der europäischen Einheit schlechthin. Wenn von Adenauer die Rede ist, das wird völlig vergessen, dass Adenauer mit Schuman Europa machen wollte und zugleich einen großen Schritt zur Gleichberechtigung. Um die Gleichberechtigung kam durch den Schuman-Plan, das war der Beginn, wo man gleichberechtigt war mit den fünf anderen der Kohle- und Stahlgemeinschaft. Das war was unwahrscheinlich Wichtiges für den Kanzler damals. Und nicht nur Europa. Genau so, wie es für de Gaulle zu dieser Zeit auch mit seiner Rede in Ludwigsburg wichtig war, zu versuchen, Deutschland, die Bundesrepublik wegzubringen von Amerika. Das ist ihm nicht gelungen.

    Kapern: Wir haben ja jetzt in diesem Gespräch immer die deutsch-französische Freundschaft, die damals besiegelt worden ist im Élysée-Vertrag, gleichgesetzt mit dem Prozess der europäischen Einigung. Hat die deutsch-französische Freundschaft auch ein Eigenleben jenseits Europas?

    Grosser: Na, vor allen Dingen – also ich gebrauche eigentlich nie deutsch-französische Freundschaft, das brauche ich nicht, ich gebrauche seit 1946 den Begriff der gegenseitigen Aufklärungsarbeit, was völlig anders ist. Das ist, man weiß mehr über den anderen, dadurch nähert man sich auch. Das ist etwas, was gut funktioniert unterhalb der Regierungsebene. Und was wunderbar ist an deutsch-französischen Beziehungen, das ist eben diese ständigen Verbindungen auf der Seite der Zivilgesellschaft. Nicht alles funktioniert, wenn Städtepartnerschaften sind oder wenn Schulpartnerschaften sind, aber es gibt zehnmal, zwanzigmal mehr Schul- oder Städte- oder Berufspartnerschaften zwischen Frankreich und Deutschland als zwischen Frankreich, Deutschland und irgendeinem anderen Land. Das ist wirklich die Basis der deutsch-französischen Beziehungen. Und wenn es oben mal schlecht geht – und es geht von Zeit zu Zeit schlecht –, dann bleibt diese menschliche Infrastruktur der Beziehung, die was ganz Besonderes ist, und da trägt zum Bespiel das Deutsch-Französische Jugendwerk viel dazu bei.

    Kapern: Nun gibt es also dieses symbolträchtige Treffen von François Hollande und Angela Merkel in Ludwigsburg. Was würden Sie den beiden auf die Agenda schreiben, was sie dringend tun müssen, im Sinne der deutsch-französischen Freundschaft, im Sinne der gegenseitigen Aufklärung und im Sinne der europäischen Integration?

    Grosser: Dass sie zusammen mit Überzeugung – ich betone, mit Überzeugung – einen Satz sagen. Der Satz wurde ausgesprochen '74 von Jacques Chirac, der sich dann verändert hat, Premierminister von Valéry Giscard d’Estaing, und der sagte in seiner Regierungserklärung '74, also das ist lange her: "Die europäische Politik ist nicht mehr Teil unserer Außenpolitik, sie ist etwas anderes. Sie lässt sich nicht trennen von den vielen, die wir in unserem Lande umsetzen." Das möchte ich, das beide zusammen sagen und es auch meinen. Und man sieht, dass beide sagen, man müsste doch mehr europäische Autorität haben, zum Beispiel einen Haushalt, Finanzen. Das ist meiner Ansicht nach Heuchelei auf beiden Seiten, auf französischer Seite noch mehr, und auf deutscher Seite, sobald es um zum Beispiel die Bankaufsicht geht, sofort heißt es wieder: Nein, so eine Aufsicht von Europa, die wollen wir nicht für unsere Banken. Ja, wo ist dann das Ziel der gemeinsamen – nicht nur der gemeinsamen Währung, jenseits der gemeinsamen Währung, um die Währung zu kontrollieren, gemeinsamer Haushalt, gemeinsame Steuern und so weiter?

    Kapern: Der Publizist Alfred Grosser. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.


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    Ansprache an die Jugend -
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