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Vor 50 Jahren
Kinostart von "Der eiskalte Engel"

Loyalität, Freundschaft, Einsamkeit, Verrat - das sind die Themen des Regisseurs Jean-Pierre Melville, Meister des französischen Film noir. Seine einsamste Figur ist der Gangster Jeff Costello in "Der eiskalte Engel". Durch das minimalistisches Spiel von Hauptdarsteller Alain Delon wurde sie zum Inbegriff einer neuen Coolness.

Von Katja Nicodemus | 25.10.2017
    Hauptdarsteller Alain Delon in "Der eiskalte Engel"
    Hauptdarsteller Alain Delon in "Der eiskalte Engel": Die Verkörperung des Gangsters Jeff Costello war die Rolle seines Lebens. (imago stock&people)
    "Ich spreche nicht mit einem Mann, der mir eine Waffe vorhält."
    Kaum zu glauben, dass Alain Delon diese Figur zunächst gar nicht spielen wollte - den Killer Jeff Costello, diesen Mann mit der unterkühlten Sexyness, den einsamen, beherrschten Krieger, der Delons Leinwandpersona prägen sollte wie keine andere Rolle. Eigentlich strebte Alain Delon 1967 nach einer Karriere in den USA und Krimis, für die der Regisseur Jean-Pierre Melville stand, interessierten ihn nicht sonderlich. Melville jedoch insistierte, bekam bei Delon einen Termin und begann, ihm das Drehbuch vorzulesen. Oder besser: eine Szenenfolge.
    Einsamkeit des Tigers im Dschungel von Paris
    Zu Beginn von "Der eiskalte Engel" liegt die Hauptfigur, der Auftragskiller Jeff Costello, im Bett. Nur das Piepen seines im Käfig sitzenden Dompfaffs ist zu hören. In den ersten acht Minuten spricht Delon fast kein Wort, und genau das verblüffte ihn so sehr, dass er die Rolle annahm. In einem Fernsehinterview, ausgestrahlt am 25. Oktober 1967, dem Tag, an dem "Der eiskalte Engel" unter dem Titel "Le Samurai" in die französischen Kinos kam, erklärte Delon, was ihn an der Rolle dieses Kriminellen faszinierte.
    "Das Thema des Films ist die Einsamkeit. Man kann ihn mit einem einzigen Satz aus dem historischen Buch des Samurai von Bushido zusammenfassen: "Es gibt keine größere Einsamkeit als die des Samurai, es sei denn die eines Tigers im Dschungel.' Dieser Mann ist ein moderner Samurai, ein Krieger der Gegenwart, der im Dschungel von Paris lebt."
    Stilbildendes ästhetisches Experiment
    Was Delon nicht wusste: Jean-Pierre Melville hatte das Zitat und Motto des Films frei erfunden. Ohnehin hatte Melville eine Vorliebe für Kunstwelten, für die freie Kombination von Zeichen und Zitaten zugunsten einer Leinwandwirklichkeit. In die Filmgeschichte ging "Der eiskalte Engel" daher nicht wegen seiner Handlung ein, die eine aufs Skelett reduzierte Geschichte erzählt: Ein Killer wird bei einem Auftrag von Zeugen erkannt, von der Polizei verhaftet, die ihm wegen seines perfekten Alibis aber nichts nachweisen kann. Fortan wird er von seinen Auftraggebern und von den Beamten gejagt.
    Wahrhaft stilbildend wurde "Der eiskalte Engel" als von François de Roubaixs kühlen Jazz-Klängen begleitetes ästhetisches Experiment - als Krimifantasie, die an die von Melville verehrten amerikanischen Gangsterfilme der vierziger Jahre anschließt. Der altmodische Trenchcoat, den Delon trägt, erinnert denn auch an die Kino-Detektive des Film noir. Und Jeff Costellos Appartement, das von Melville im Studio nachgebaut wurde, hat nichts mit der Pariser Wirklichkeit zu tun. In einem Interview inmitten des Dekors erklärt der Regisseur warum:
    "Ich habe diesen Dekor nicht auf realistische Weise gestaltet. Er befindet sich zwar im zwanzigsten Pariser Arrondissement, aber die Höhe der Decke, die Form der Fenster und der Ausblick haben nichts mit der Umgebung zu tun. All das soll dem Zuschauer nicht bewusst werden. Er soll eher eine leichte Verfremdung empfinden, ein Gefühl der Ortlosigkeit, in dem er sich dennoch einrichten kann."
    Delons Rolle wurden zum Inbegriff einer neuen Coolness
    In dieser Umgebung inszeniert Melville den Killer als Mann ohne Eigenschaften. Ohne Psychologie und ohne Moral. Costello, der moderne Samurai, dient keiner Autorität, sondern nur dem Handwerk des Tötens, das er perfekt beherrscht. Mit seinem katzenhaften Instinkt wittert er jede Gefahr. Sofort entdeckt er das Abhörgerät, das die Polizei hinter dem Vorhang installiert hat. Auch seine Dialogzeilen sind von einer nähmaschinenhaften Knappheit und Perfektion. Etwa in der illegalen Spielhölle:
    "Nimm Geld mit für den Fall, dass Du verlierst."
    "Ich verliere niemals, niemals wirklich."
    Oder bei der Gegenüberstellung auf dem Revier.
    "Warum haben Sie sich den Schnurrbart abrasiert, Costello?"
    "Ich hatte in meinem Leben noch keinen Schnurrbart."
    Delons Rolle und sein minimalistisches Spiel wurden zum Inbegriff einer neuen Coolness, einer Attitüde, kopiert und zitiert von Popstars wie David Bowie und von Schauspielern wie Helmut Berger. Zugleich wirken die maschinellen, wie geölt wirkenden, roboterhaften Bewegungen nicht nur des Helden, nein aller Figuren, wie ein Reflex auf die politische und soziale Erstarrung des Jahres 1967. Auf Verhältnisse, die bald darauf vom politischen Aufbruch der 68-er-Bewegung hinweggefegt werden sollten. Jeff Costello ist nicht mehr eins mit dieser Welt, in der er lebt und tötet. Vielleicht war er es nie. Vielleicht schlummert in ihm eine große Sehnsucht nach etwas anderem. Aber vielleicht projizieren wir diese Sehnsucht auch nur hinein, in die Einsamkeit des Tigers im Dschungel von Paris.