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Vor 50 Jahren
Naziführer aus der Haft entlassen

20 Jahre lang saßen sie in Haft. Dann öffneten sich die Tore des Kriegsverbrechergefängnisses in Berlin-Spandau und gaben den Weg frei für die einstigen Nazi-Größen Albert Speer und Baldur von Schirach. In der wieder gewonnenen Freiheit setzten beide fort, was sie schon hinter Gittern begonnen hatten: die Selbstinszenierung als unschuldige Täter.

Von Bernd Ulrich | 01.10.2016
    Der Architekt und Politiker Albert Speer in einer zeitgenössischen Aufnahme. Am 31. März 1937 wurde er zum Generalbauinspektor der Reichshauptstadt Berlin berufen. Als Reichsminister war er seit Anfang der 40er Jahre für Bewaffnung, Munition, Rüstung und Kriegsproduktion zuständig. Daneben fungierte er als Generalinspekteur für das Straßenwesen, Wasser und Energie. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß wurde Speer zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er wurde am 19. März 1905 in Mannheim geboren und ist am 1. September 1981 in London gestorben.
    Albert Speer - eine zeitgenössischen Aufnahme. (picture alliance / dpa)
    "Gleich erzähle ich Ihnen kurz, wie die zwei, drei letzten Tage vergangen sind. Vielleicht ganz interessant für Sie, natürlich war es doch recht aufregend, aber ich bin glücklich, dass ich hier nun wieder draußen bin - nach zwanzig Jahren."
    Die Tore der Haftanstalt Berlin-Spandau öffneten sich exakt 20 Jahre nach der Verkündung des Urteils im Nürnberger Prozess. Kurz nach Mitternacht am 1. Oktober 1966 war es soweit: Albert Speer, Architekt des Führers und seit 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition, war wieder ein freier Mann - ebenso wie sein Mitgefangener, der einstige Reichsjugendführer Baldur von Schirach, ab 1940 Gauleiter und Reichsstatthalter von Wien.
    Baldur von Schirach schwieg
    Die beiden ehemaligen Naziführer trafen auf fast 2.000 Pressevertreter, die vor dem Gefängnistor gewartet hatten. Doch in der Pressekonferenz wusste Speer kaum mehr zu erzählen, als den Verlauf der letzten Gefängnis-Tage. Der in der Haft erkrankte Baldur von Schirach schwieg. Er hatte bereits einen lukrativen Vertrag über seine Erinnerungen in der Tasche. Sie erschienen ein knappes Jahr später unter dem Titel "Ich glaubte an Hitler". Schirach inszenierte sich in den kommenden Jahren als gläubiger Hitler-Verehrer, der vom Objekt seiner Obsession betrogen worden war. Speer hingegen gab den politisch unbedarften, kaum in Verbrechen verstrickten, schöngeistigen Architekten:
    "Mit jungen Jahren Bauaufträge zu bekommen, die in der Baugeschichte einmalig waren, ihrer Größe und ihrer Bedeutung nach, hatte natürlich etwas so Faszinierendes, war eine so große Versuchung, dass ich nicht glaube, dass ich dieser Versuchung widerstehen könnte, selbst wenn sie mir heute geboten würde."
    Wer würde ihm da nicht zustimmen? Der Publizist und Historiker Joachim C. Fest hat Albert Speer zunächst unfreiwillig bei der Verfertigung des neuen Selbstbildes als "guter Nazi" geholfen, betrachtete ihn später aber zunehmend kritischer. Er habe Speer etwa nach Abschluss von dessen Erinnerungen gefragt, ob er etwas verheimlicht oder verschwiegen hätte. Darauf Speer, so Fest in einem Interview:
    "Und er hat mir - mit diesem treuherzigen Augenaufschlag, über den er verfügte - versichert, es gebe nichts, was er verschwiegen habe."
    Der Kölner Historiker Jost Dülffer:
    "Albert Speer ist ein ehrgeiziger Mann, der Umstände kriegt, unter denen er seinen Ehrgeiz so verwirklichen kann, dass er der zweite Mann im NS-Staat ist, und er weiß das auch, er setzt das mit aller Arroganz durch - und hat sich später auf einen Kern seiner Tätigkeit zurückgezogen, die in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik opportun war."
    Und nicht opportun war eben, um nur ein Beispiel zu nennen, Speers maßgebliche Beteiligung an der Vertreibung und Deportation Berliner Juden, deren Wohnungen im Zuge der Germania-Planungen gebraucht oder abgerissen werden sollten. In einer auf Befehl Speers angelegten Chronik - die er später von einem engen Freund frisieren ließ - hieß es im April 1941:
    "Seit Jahresbeginn war in verstärktem Maße mit der Räumung der Abrissbereiche und Umsiedlung in Judenwohnungen begonnen worden. Nach der Räumung wurden die jüdischen Mieter in jüdischen Wohnraum jüdischen Grundbesitzes geschachtelt."
    Ab Herbst 1941 wurden die Opfer dieser "Entjudung von Wohnraum" nicht mehr nur "umgesetzt", sondern in Vernichtungslager deportiert. Daran und an vieles andere vermochte sich Speer indessen nicht oder nur unscharf zu erinnern. Ebenso wenig übrigens wie von Schirach an seine Mit-Verantwortung für die Deportation von fast 190.000 Wiener Juden.
    Nahezu an allen Entscheidungsprozessen beteiligt
    Doch die Stimmung in der jungen Bundesrepublik war und blieb den beiden Herren, vor allem Albert Speer, durchaus wohlgesonnen. Jost Dülffer bringt es auf den Punkt:
    "Das war ein Techniker, der genau wusste, in welchem System er arbeitete. Wir sind ihm entscheidend auf den Leim gegangen, denn er hat als erster seine Memoiren schreiben können. Er war der "gute Nazi" in ungezählten Talkshows, und das hat das Bild bis in die Gegenwart hinein geprägt und ist von einigen seiner Biografen, von Joachim Fest bis Gitta Sereny, so auch weiter verbreitet worden."
    Speer wie auch von Schirach: Sie waren nicht nur dabei, sondern ganz direkt beteiligt an nahezu allen Entscheidungsprozessen, auf denen die Verbrechen der Nazizeit basierten.