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Vor 50 Jahren
Wild gelebt und jung gestorben – die Autorin Albertine Sarrazin

Von den Adoptiveltern verstoßen, Leben auf der Straße, Knast, Ausbruch - Mitte der 60er-Jahre wird Albertine Sarrazin mit ihren bewegten Lebenserinnerungen schlagartig bekannt. Doch der Erfolg währt nur kurz: Die begabte Erzählerin stirbt mit nur 29 Jahren bei einer Operation.

Von Vanessa Loewel | 10.07.2017
    Die französische Schriftstellerin Albertine Sarrazin bei einer Signierstunde im Jahr 1965.
    Lange konnte sie ihren Ruhm nicht genießen: Schriftstellerin Albertine Sarrazin anderthalb Jahre vor ihrem Tod bei einer Signierstunde. (imago/Zuma/Keystene)
    "Les livres sont là, ils sont née, c’est ma plus belle victoire" – "Die Bücher sind mein schönster Erfolg", sagte die 27-jährige Albertine Sarrazin in einem Interview. 1965 erscheinen ihre Romane "Der Astragal" und "Kassiber", in denen sie über ihre Zeit im Gefängnis, die Flucht aus der Haftanstalt, das Leben im Untergrund schreibt. Eine Sensation! Schon nach kurzer Zeit muss nachgedruckt werden. Auf einmal ist Albertine Sarrazin nicht mehr die Kleinkriminelle mit unglücklicher Kindheit, sondern eine Schriftstellerin mit bewegter Vergangenheit. Sie bekommt einen Literaturpreis, wird zu Lesungen eingeladen, auf Radio- und Fernsehbühnen gebeten.
    "Was den Erfolg betrifft, da ist sehr viel zusammengekommen", sagt Sarrazin-Kennerin Ursula Meyer. "Einmal durch den Stoff und diese Flucht aus dem Gefängnis, dieses aufregende Leben. Es war ihre Persönlichkeit: Sie war hübsch, sie konnte sich gut verkaufen, sie trat sehr selbstsicher auf, und sie hat zum Teil auch von den Kritikern verlangt, sie sollen erstmal ihr Buch lesen. Denn es gab nicht nur positive Kritiken. Es war ihre ganze Vita."
    Die Autorin hat ihre Doktorarbeit über Albertine Sarrazin geschrieben. "Es ist ein sehr lockerer Stil, also wenn man bedenkt, dass sie doch über ihren Gefängnisaufenthalt geschrieben hat. Da verwendet sie sehr viele Spezialwörter. Es ist ein sehr witziger, ironischer Stil, der auch ätzen kann. Und er ist auch unheimlich poetisch."
    Schwierige Jugend
    Als Albertine Damien wurde die Schriftstellerin 1937 in Algier geboren, wahrscheinlich von einer minderjährigen Mutter, die den Säugling bei der Fürsorge aussetzte. Ein Arzt der französischen Armee und dessen Frau adoptierten sie. Doch Albertine litt unter der Strenge des ältlichen Ehepaares. Als sie zehn war, zog die Familie nach Südfrankreich. Das Mädchen brillierte in der Schule, war aber undiszipliniert, schwänzte und lief weg von zu Hause. Mit 15 gaben ihre Adoptiveltern sie in ein geschlossenes Erziehungsheim, eine Art Jugendgefängnis. Früh begann sie zu schreiben. Ursula Meyer:
    "Sie hat im Gefängnis dann gemerkt, wenn ich ein Tagebuch führe, dann rede ich ja mit jemandem. Und sie hat das Gefühl, ich komme aus meiner Einsamkeit heraus. Sie war eigentlich immer ein ganz einsamer Mensch. Sie ist in einem Elternhaus aufgewachsen, einem Adoptivelternhaus, das ihr gar nichts gebracht hat, außer einer kleinbürgerlichen Enge."
    Ausbruch
    Sie nutzt den Freigang nach der Abiturprüfung zum Ausbruch: In Paris hält sie sich als Gelegenheitsprostituierte und mit Diebstählen über Wasser. Doch für einen dilettantischen, wenn auch bewaffneten, Überfall auf eine Boutique wird sie zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Eine ungewöhnlich harte Strafe für eine Siebzehnjährige. Nach zwei Jahren bricht sie wieder aus. Zehn Meter ist die Gefängnismauer hoch, die sie hinunterspringt:
    "Ich bin geflogen, meine Süßen! Ich bin geflogen, geschwebt, gekreiselt, eine Sekunde, die lang war und gut, ein Jahrhundert. Und jetzt sitze ich hier, befreit von da oben, befreit von euch." So beschreibt sie die Flucht in ihrem Buch mit dem Titel "Astragal", mit dem medizinischen Fachausdruck für den Knochen am Fußgelenk, den sie sich beim Springen zertrümmert.
    Im Roman wie im Leben kann sie ihre Flucht nur noch robbend fortsetzen – bis ein Mann sie aufliest und bei Freunden versteckt. Julien Sarrazin hat, wie sie, bereits eingesessen. Er ist einer der wenigen Glücksfälle in Albertines Leben – und ihre große Liebe. Meistens ist einer der beiden im Gefängnis: wegen Diebstahls, Hehlerei oder gefälschter Papiere. Ihre Hochzeit dauert nur wenige Minuten, danach muss Albertine wieder zurück in die Zelle.
    Bucherfolg
    "Gefängnis ist mehr oder weniger sinnlos", sagte Sarrazin. "Aber ich habe trotzdem versucht, aus allem, was mir dort widerfahren ist, etwas zu machen." Hinter Gittern macht sie eine zweite Abiturprüfung, liest und schreibt. Eine Gefängnispsychologin erkennt ihr Talent und hilft ihr, einen Verleger zu finden. Ihre Romane sind autobiographisch, wobei sie weniger dramatisieren als abmildern muss, erklärt Ursula Meyer. "Es hat sicher sehr viel Schlimmes gegeben, was sie aber in die Bücher gar nicht aufgenommen hat. Weil es ist ja auch, das schreckt den Leser ab, das will er nicht lesen."
    Mitte der 60er haben die Eheleute Sarrazin endlich beide ihre Strafen abgesessen. Albertines Bücher werden zu Bestsellern. Doch es bleibt ihr kaum ein Jahr, um ihren Erfolg und die gemeinsame Freiheit mit Julien zu genießen. Sie stirbt am 10. Juli 1967 während einer Nierenoperation durch einen Behandlungsfehler des Anästhesisten – im Alter von 29 Jahren.