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Vor 60 Jahren werden die Häftlinge im Vernichtungslager Auschwitz befreit

Der italienische Chemiker Primo Levi, seit dem Frühjahr 1944 Häftling in Auschwitz mit der Nummer 174.517, hat in seinen Erinnerungen Ist das ein Mensch? seine persönlichen Erfahrungen während der letzten Tage vor der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee in lakonischen Worten festgehalten:

Von Hans-Martin Lohmann | 27.01.2005
    Die Zahl der Raben hatte sich sehr vermehrt, und jeder wusste, warum. Nur in großen Abständen ließ sich die Artillerie wieder vernehmen. Alle sagten einander, dass die Russen bald, sofort eintreffen würden; alle proklamierten sie es, alle waren sich dessen gewiss, aber keiner war fähig, es klaren Sinnes zu fassen. Denn in den Lagern kommt einem die Gewohnheit des Hoffens abhanden und auch das Vertrauen in die eigene Vernunft.

    Unter dem Datum des 26. Januar notiert Levi, der nach der Räumung des Lagers durch die SS und nach der Evakuierung Zehntausender Häftlinge, die auf die Todesmärsche in Richtung Westen geschickt worden waren, mit nur wenigen, meist kranken Menschen zurückgeblieben war:

    Wir lagen in einer Welt der Toten und der Larven. Um uns und in uns war die letzte Spur von Zivilisation geschwunden. Das Werk der Vertierung, von den triumphierenden Deutschen begonnen, war von den geschlagenen Deutschen vollbracht worden.

    Am selben Tag, um ein Uhr nachts, sprengt ein SS-Kommando, das die Aufgabe hat, die Spuren des Massenverbrechens zu verwischen, das letzte der Krematorien in Birkenau (das Krematorium V). Am Samstag, dem 27. Januar, gegen 9 Uhr morgens, erscheint auf dem Gelände des Häftlingskrankenbaus im Nebenlager Monowitz der erste russische Soldat einer Aufklärungstruppe der 100. Infanteriedivision des 106. Korps. Am Nachmittag ziehen die Soldaten der Roten Armee in die Umgebung des Stammlagers Auschwitz und der Lager in Birkenau. Beim Stammlager Auschwitz treffen sie auf den Widerstand der zurückweichenden deutschen Einheiten. In den Kämpfen um die Befreiung der Konzentrationslager Auschwitz, Birkenau und Monowitz und der Stadt Auschwitz mit Umgebung fallen 231 Soldaten der Roten Armee.

    Was die russischen Befreier in dem riesigen Lagerkomplex vorfanden, sprengte den normalen Menschenverstand und die normale Phantasie: unzählige Tote, erschossen, verhungert oder erfroren, ausgemergelte Überlebende, außerdem 348.830 Herrenanzüge, 836.255 Damenkleider, 13.964 Teppiche, sieben Tonnen Haare, Unmengen von Zahnbürsten, Rasierpinseln, Brillen und Gebissen. Im von Danuta Czech penibel zusammengestellten Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945 finden sich auf den Seiten 959 und 963 Fotos von zwei weiblichen Häftlingen, die nach ihrer Befreiung noch 35 und 23 Kilo wogen. Charlotte Grunow, die bis zur Evakuierung des Lagers in Auschwitz war, gab am 15. April 1945 in Bergen-Belsen gegenüber der BBC zu Protokoll:

    Heute sind wir glücklich ... dort in den Kamin gegangen. (Die überlebende deutsche Jüdin berichtet über die Leiden, denen sie und ihre Mitgefangenen in Auschwitz ausgesetzt waren, und stellt fest, dass es ausreichte, Jude zu sein, um für die Vernichtung bestimmt zu sein: Nur weil man Jude war, ging man durch den Kamin.)

    Ob Peter Eisenmans gigantisches Stelenfeld in Berlin den moralischen und historischen Auftrag zu erfüllen vermag, das Gedenken an das Jahrhundertverbrechen, das sich mit dem Namen Auschwitz verbindet, wachzuhalten, muss fraglich bleiben. Überhaupt bleibt fraglich, ob irgendeine Form des Gedenkens in der Lage ist, den Toten und Überlebenden ihre geraubte Menschenwürde zurückzugeben und darüber hinaus die Hoffnung zu beflügeln, dass das Verbrechen sich nicht wiederhole. Denn gültig scheint nach wie vor Primo Levis ratlose und hoffnungslose Auskunft zu sein:

    Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen: dies ist der Kern dessen, was wir zu sagen haben.

    Gibt es auch nur einen einzigen Menschen, der den Mut hätte, zu widersprechen?