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Vor 70 Jahren: Der Hitler-Stalin-Pakt

Was brachte das nazistische Hitler-Deutschland und die kommunistische Sowjetunion am 23. August 1939 dazu, einen Nichtangriffspakt abzuschließen? Die beiden so gegensätzlichen und verfeindeten Seiten teilten Europa unter sich auf. Der Krieg folgte der Kumpanei auf dem Fuß: Nur eine Woche später überfiel Deutschland das Nachbarland Polen.

Von Dietrich Möller | 23.08.2009
    "Während noch die Militärmissionen der westlichen Einkreisungsmächte in Moskau weilten, traf Reichsaußenminister von Ribbentrop in der russischen Hauptstadt ein."

    Nein, Bild und Ton trogen die Kinogänger nicht, sie hatten es ja auch schon im Rundfunk gehört und in den Zeitungen gelesen; allenthalben sprach man inzwischen von diesem eigentlich schier unglaublichen Ereignis, in ganz Europa.

    "Nach einem freundlichen Empfang fuhr der Minister zur deutschen Botschaft und begab sich später in den Kreml, wo in Anwesenheit Stalins der Nichtangriffs- und Konsultationspakt unterzeichnet wurde."

    Hatte die nationalsozialistische Propaganda in Deutschland nicht ständig gegen den "jüdischen Bolschewismus" und "Abschaum der Erde" getrommelt, wenn Stalin und das Sowjetsystem gemeint waren? Hatte Deutschland, hatte Hitler nicht mit Japan, Italien, Ungarn und Spanien einen gegen jenes ideologische System gerichteten Pakt - den sogenannten Antikomintern-Pakt - geschlossen? Und war auf der anderen Seite "der Kampf gegen den Faschismus" nicht ein Kernelement der sowjetischen Ideologie und Propaganda gewesen? Und Hitler als "blutiger Mörder der Arbeiterklasse" bezeichnet worden?

    Und nun, am 23. August 1939, versprachen diese beiden so gegensätzlichen und scheinbar verfeindeten Seiten einander eine strikte Neutralität für den Fall, dass eine von ihnen von einem Dritten angegriffen würde, dazu ständige Konsultationen und einen freundschaftlichen Meinungsaustausch in Konfliktfällen.

    Es schien, als wunderten sich selbst die beiden Diktatoren über ihren verwegenen Coup. Bei der Unterzeichnung nannte Stalin Hitler einen "Molodez" - einen Prachtkerl und erhob das Glas auf ihn mit den Worten:

    "Ich weiß, wie sehr das deutsche Volk seinen Führer liebt, ich möchte deshalb auf seine Gesundheit trinken."

    Und jener "Prachtkerl" harrte anscheinend voller nervöser Ungeduld auf das Ergebnis der Moskauer Verhandlungen. Sein Propagandachef Goebbels notierte in seinem Tagebuch "endloses Warten" und dann:

    "Endlich nachts um 1h Durchgabe des Communiqués: vollkommener Akkord ... Ein Vertrag auf sehr weite Sicht und sogleich in Kraft tretend. Ein weltgeschichtliches Ereignis von unüberschaubaren Konsequenzen. Der Führer und wir alle sind sehr glücklich."

    Drei Stunden lang habe man noch zusammengesessen und die sich nun ergebenen Möglichkeiten besprochen. Goebbels beschrieb sie nicht, aber für aufmerksame Zeitgenossen war es schon am Tag danach naheliegend, was eine Woche darauf geschah: Hitler hatte freie Hand für einen Krieg gegen Polen, ohne befürchten zu müssen, neben Frankreich und Großbritannien als Verbündete Polens auch noch die Sowjetunion zum Gegner zu haben, also in einen Zweifrontenkrieg verwickelt zu werden.

    Und Stalin hatte ihm diese Position verschafft - wissentlich und willentlich. Nein, keineswegs aus Sympathie für den "Molodez", für den "Prachtkerl" in Berlin, sondern berechnend: beutegierig.

    Tatsächlich war ja nicht nur ein Nichtangriffs- und Konsultationsvertrag abgeschlossen worden. Angefügt war dem ein geheimes Protokoll, in dem die beiden Diktatoren eine territoriale Neuordnung Osteuropas festschrieben, von der sie natürlich wussten, dass sie nur durch Waffengewalt zu realisieren war. Und zu der waren sie entschlossen, beide.

    "Aus Anlass der Unterzeichnung des Nichtangriffsvertrages zwischen dem Deutschen Reich und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken haben die unterzeichneten Bevollmächtigten der beiden Teile in streng vertraulicher Aussprache die Frage der Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa erörtert. Diese Aussprache hat zu folgendem Ergebnis geführt:

    1. Für den Fall einer territorialen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphären Deutschlands und der UdSSR.

    2. Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staate gehörenden Gebiete werden die Interessensphären ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San abgegrenzt. Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden.

    3. Hinsichtlich des Südostens Europas wird von sowjetischer Seite das Interesse an Bessarabien betont. Von deutscher Seite wird das völlige politische Desinteressement an diesen Gebieten erklärt."


    Dieses Zusatzprotokoll - dem wenig später weitere angefügt wurden - blieb tatsächlich lange geheim; in der Sowjetunion leugnete man seine Existenz gar ein halbes Jahrhundert lang und bezeichnete es als eine diffamierende Fälschung. Indessen sollte seine Umsetzung sehr bald erfolgen, gewaltsam: Hitler und Stalin teilten sich Polen, Stalin nahm sich die drei baltischen Staaten und machte sie zu Sowjetrepubliken, ebenso verfuhr er zu Lasten Rumäniens mit Bessarabien und der Nordbukowina.

    Und das demokratische Europa, Frankreich vor allem und Großbritannien sahen dem erst einmal zu, zögernd und unentschlossen, allzu lange dem Prinzip Beschwichtigung folgend.

    Der Historiker Werner Benecke verweist auf zwei wesentliche Folgen aus der Kumpanei der Diktatoren:

    "Wenn man zum Beispiel darauf schaut, dass eines der Zusatzprotokolle die Auflösung der ethnischen Gemengelage in Ostmitteleuropa in konkreten Bahnen vorzeichnet, dass denjenigen deutschen Personen, die sich im sowjetischen Machtbereich befinden, die Möglichkeit gegeben wird, in den deutschen Machtbereich überzusiedeln, und das gelte auch für die ukrainischen und weißrussischen Bürger, die sich künftig im deutschen Machtbereich befänden.

    Die Katastrophe Ostmitteleuropas, das heißt die gewaltsame Zerschlagung dessen, was dieser Teil der Welt einmal war, nämlich ein enormes Mosaik an ethnischen, an konfessionellen, auch an sozialen Überlappungen. Dieser Pakt liefert den entscheidenden Impuls für das, was dann 1944 folgende sich den Deutschen vielfach als die große Katastrophe aus dem Osten präsentiert. Angeregt, vertraglich gesichert wird das genau dort."

    Und die andere Folge sei das Trauma kleinerer Staaten, zurückgesetzt und allein gelassen zu werden:

    "Ich glaube, bis in die gegenwärtige Tagespolitik lässt sich in einigen Ländern Ostmitteleuropas noch immer nachvollziehen, dass die Westmächte im September 1939 nicht zu ihren Gunsten eingegriffen haben. Dieses Zeichen der Nachrangigkeit für diejenigen, mit denen man gültige Bündnisverträge hat sitzt, glaube ich, sehr, sehr tief und hat viel damit zu tun, dass das Sicherheitsbedürfnis dieser Staaten keineswegs nur und ausschließlich auf europäische Strukturen fixiert. Wenn man die berühmte Raketenschilddebatte, wenn man die Frage über das russische Vorgehen im Kaukasus beleuchten will, hat das, glaube ich, sehr, sehr viel mit den Signalen des August und September 1939 zu tun."

    Doch wie war es zu dieser doppelseitigen Volte zweier Diktatoren und diametral entgegengesetzter Systeme gekommen? Wer hatte mit welchen Interessen die Initiative ergriffen?

    Rund zwanzig Jahre nach dem für Deutschland so quälend strafenden und diskriminierenden Friedensvertrag von Versailles war es ein erklärtes Ziel Hitlers, die dem Völkerbund unterstellte "Freie Stadt" Danzig wieder dem Reich einzuverleiben und den Zugang nach Ostpreußen - das durch den sogenannten Korridor von Deutschland getrennt war - neu zu regeln. Unausgesprochen blieb die Absicht, die auch mit dem Versailler Vertrag an Polen verlorenen Provinzen Posen und Westpreußen zurückzuholen.

    Vom Oktober 1938 an wurde Polen von Deutschland diplomatisch und propagandistisch massiv bedrängt. Warschau wurde eine "Gesamtlösung" vorgeschlagen, ein 25-jähriger Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit, mit dem sich beide Seiten gegenseitig ihre Grenzen garantieren sollten; eine Konsultationsklausel sah vor, dass die Partner ihr Vorgehen auf internationaler Ebene miteinander absprechen. Als polnische Gegenleistung wurde die Rückgliederung Danzigs ins Reich und eine exterritoriale Autobahn- und Einsenbahnverbindung von und nach Ostpreußen verlangt. Und - Polens Beitritt zum Antikomintern-Pakt, der ja ein gegen die Sowjetunion gerichtetes System war.

    Der Vorschlag bedeutete nichts weniger, als dass sich Polen willfährig an Deutschland binden sollte.

    "Das war mit einer polnischen Politik, die - seitdem der Staat existierte - bewusst auf Äquidistanz zischen Berlin und Moskau geachtet hatte, nicht akzeptabel, nicht möglich. Selbst wenn Polen an der einen oder anderen Stelle ein Zugeständnis gemacht hätte, wäre diese Grundfrage keineswegs gelöst gewesen. Polen hatte einen sehr engen, begrenzten Spielraum, den es aber im Vertrauen darauf, dass die Westmächte zu ihren Bündniszusagen stehen würden, mit aller Konsequenz auslotete."

    Bündnisverpflichtungen, die allerdings mit dem Münchner Abkommen über die Abtretung des Sudetenlandes im September 1938 und die Zerschlagung der Tschechoslowakei ein paar Monate später ziemlich fragwürdig geworden waren: Frankreich und Großbritannien hatten Hitler gewähren lassen - um des lieben Friedens willen. "Appeasement", Beschwichtigung durch Zugeständnisse ist seither ein Schlüsselwort in der Außenpolitik und im Geschichtsbewusstsein kleinerer Völker.

    Im Verhältnis zu Polen mussten Hitler und seine Leute nun ein neues Wort kennenlernen:

    "Das Umgehen mit einem Wort, das sie auf der Ebene der Außenpolitik nicht kannten. Und dieses Wort heißt 'nein'. Bis dahin war den Nationalsozialisten in einer ausgesprochen risikobereiten Außenpolitik, in einer ausgesprochen gefährlichen Außenpolitik eigentlich alles gelungen, was sie auf ihre Agenda gesetzt hatten. 1939 hören sie zum ersten Mal aus Warschau das Wort 'nein'. Die Polen verweigern sich einer zunächst mit friedlichen Mitteln angedachten faktischen Unterordnung ihres Landes in den deutschen Machtbereich. Eine Situation, auf die Deutschland zum ersten Mal in irgendeiner Weise reagieren kann, und es zeigt sich, dass die Register der Reaktion nicht besonders breit sind. Deutschland begibt sich aus Erfahrung heraus unter einen Druck selbstgemachten Handlungszwangs, bei dem es am Ende nur die eine Option gibt: Zu erzwingen, was durch Verhandlungen nicht geht, das heißt Polen zu isolieren."

    Was lag näher, als es mit Stalin zu versuchen?

    Die sowjetisch-polnischen Beziehungen waren der Form nach korrekt. Indessen war in Moskau nicht vergessen, dass Sowjetrussland im Grenzvertrag von 1919 und im Friedensvertrag von Riga 1921 einiges an Land wieder an Polen geben musste, das sich das Zarenreich mit den polnischen Teilungen einverleibt hatte. Und ebenso wie Deutschland mochte sich auch die Sowjetunion nicht mit dem Versailler System und den mit ihm verknüpften Status Frankreichs und Großbritanniens als Ordnungsmächten abfinden.

    Die Frage aber, ob es Hitler war oder Stalin, der die Initiative zu einer Annäherung bis hin zur Komplizenschaft ergriff, sei mittlerweile eindeutig zu beantworten, meint der russische Historiker Sergej Slutsch und - bereitet dem deutschen Publikum eine Überraschung:

    Slutsch geht von der Tatsache aus, dass das Münchner Abkommen über die Tschechoslowakei im Jahre 1938 an der Sowjetunion vorbei zustande kam, sie also einmal mehr von den wesentlichen Entscheidungen in Europa ausgeschlossen, isoliert wurde.

    "Die von Stalin nach München betriebene Politik stellte sich in erster Linie die Aufgabe, eine Übereinkunft mit NS-Deutschland zu erzielen.

    Da die Handlungsoptionen auf internationaler Ebene begrenzt waren, erkannte Stalin die Gemeinsamkeiten mit Deutschland bedeutend eher als Hitler. Eigentlich - wie jüngste Recherchen in russischen Archiven ergeben haben - hatte Stalin spätestens Anfang 1939 den Entschluss gefasst, intensiv nach Wegen zu suchen, Deutschland zu Verhandlungen zu gewinnen und demgemäß den eigenen außenpolitischen Kurs nach und nach zu korrigieren."

    Im März 1939 gab er in einer Rede auf dem Parteitag ein erstes Zeichen - eines, das aber sowohl an Hitler als auch an die Westmächte gerichtet war: Er sagte, es gebe keine Gründe, einen Konflikt mit Deutschland zu provozieren und die Atmosphäre zu vergiften; sein Land wünsche feste Geschäftsbeziehungen mit allen Staaten.

    Ein nächster Hinweis war noch viel deutlicher und im Urteil Slutschs von geradezu "jesuitischer Meisterschaft": Die Ablösung Maxim Litwinows durch Wjatscheslaw Molotow als Außenminister am 3. Mai 1939; Litwinow war bei aller Loyalität gegenüber Stalin ein auch im Westen geschätzter Gesprächspartner.

    "Für den pathologischen Antisemiten Hitler musste jedoch nicht die Entfernung des Westlers Litwinow aus dem Amt, sondern die Absetzung des Juden Litwinow als Leiter der außenpolitischen Behörde das wichtigste Signal für den Wandel der sowjetischen Außenpolitik sein. Und Stalin griff zu diesem stärksten aller Argumente für die Annäherung an Deutschland. Und dieses Mal erwies sich seine Berechnung als ganz zutreffend. Nach der Amtsenthebung Litwinows befand sich die Politik der UdSSR und der Zustand der deutsch-sowjetischen Beziehungen beständig in Hitlers Blickfeld."

    Es war ein Signal, wie es lauter kaum sein konnte - laut und durchtrieben.

    "Befreien Sie das Ministerium von Juden! Säubern Sie die Synagoge",

    befahl Stalin. Eine Verhaftungswelle erfasste Dutzende von Mitarbeitern Litwinows. Natürlich wurde auch das von den Botschaften in Moskau registriert und ihren Regierungen berichtet.

    Ein weiteres Signal für Hitler war die Aufnahme von Gesprächen zwischen der Sowjetunion und den durch den deutschen Einmarsch in Prag aufgestörten Westmächten Frankreich und England - den beiden "Einkreisungsmächten", wie sie die deutsche Propaganda nannte. Dabei verlangte Stalin schon, was er dann von Hitler bekommen sollte: Freie Hand in Bezug auf das Baltikum und Polen. Er musste wissen, dass der Westen ihm darin nicht folgen würde.

    Hitler nahm das Signal auf und hatte es plötzlich sehr eilig. Am 14. August 1939 unterbreitete er Stalin ein Verhandlungsangebot, das der mit dem Hinweis beantwortete, zunächst sollte der bereits verhandelte Wirtschaftsvertrag unterschriftsreif gemacht werden. Und im übrigen müsste einem Nichtangriffspakt "ein spezielles Protokoll" angefügt werden,

    "das die Interessen der vertragschließenden Teile an diesen oder jenen Fragen der auswärtigen Politik regelt."

    Hitler akzeptierte sofort: Am 20. August telegrafierte er an Stalin:

    "Das von der Regierung der Sowjetunion gewünschte Zusatzprotokoll kann nach meiner Überzeugung in kürzester Frist substantiell geklärt werden, wenn ein verantwortlicher deutscher Staatsmann in Moskau hierüber selbst verhandeln kann. Die Spannung zwischen Deutschland und Polen ist unerträglich geworden. Deutschland ist jedenfalls entschlossen, diesen Zumutungen gegenüber von jetzt an die Interessen des Reiches mit allen Mitteln wahrzunehmen. Es ist zweckmäßig, keine Zeit zu verlieren. Ich schlage Ihnen deshalb vor, meinen Außenminister am Dienstag, den 22. August, spätestens aber am Mittwoch, den 23. August, zu empfangen."

    Und so geschah es. So wurde die Beute verteilt. Sie musste nur noch erlegt werden. Eine Woche darauf fielen die ersten Schüsse.
    Josef Stalin
    Josef Stalin (AP)