Donnerstag, 18. April 2024

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Vor 70 Jahren
Fritz von Unruh hielt die "Rede an die Deutschen"

Nach dem Wiederaufbau fand am 18. Mai 1948 zum hundertjährigen Jubiläum der Nationalversammlung die feierliche Übergabe der restaurierten Paulskirche an die Öffentlichkeit statt. Die Festansprache hielt der Schriftsteller Fritz von Unruh, sie wurde als "Rede an die Deutschen" berühmt.

Von Otto Langels | 18.05.2018
    Der Dichter und Schriftsteller Fritz von Unruh während einer Festrede am 18.5.1948 in der Paulskirche in Frankfurt am Main.
    Der Dichter und Schriftsteller Fritz von Unruh während einer Festrede am 18.5.1948 in der Paulskirche in Frankfurt am Main (dpa)
    "Die feierliche Stunde für die Stadt Frankfurt am Main ist gekommen. Das Jahr 1948, 100 Jahre 1848. Vor 100 Jahren das gleiche Bild fast, das wir heute sehen. Die Paulskirche als Mittelpunkt."
    Am 18. Mai 1948 kamen in dem wiederhergestellten Plenarsaal der Frankfurter Paulskirche Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft zu einem Festakt zusammen - genau 100 Jahre, nachdem dort die Nationalversammlung der ersten frei gewählten Vertreter des deutschen Volkes getagt hatte.
    Frankfurts Oberbürgermeister Walter Kolb erinnerte daran, wie im Zweiten Weltkrieg alliierte Bomber die Paulskirche als nationales Symbol für Freiheit und Demokratie in Schutt und Asche gelegt hatten.
    "Mit der Zerstörung dieses hehren Tempels der Freiheit und Wahrheit sind auch Ansehen und Wohlstand unserer Nation untergegangen."
    Überzeugter Demokrat und Pazifist
    Als Festredner hatte Kolb den Schriftsteller Fritz von Unruh eingeladen, dem sich die Stadt Frankfurt am Main besonders verbunden fühlte und ihm zum Beispiel 1927 ein Wohnrecht auf Lebenszeit gewährt hatte. Unruh, ein Mann aus altem preußischen Adel, war während des Ersten Weltkriegs und in der Weimarer Zeit als Autor zahlreicher gesellschaftskritischer Dramen und Romane bekannt geworden. Der überzeugte Demokrat und Pazifist musste 1933 emigrieren, die Nationalsozialisten bürgerten ihn aus und verbrannten seine Bücher.
    Auf Bitte des Frankfurter Oberbürgermeisters kehrte Unruh 1948 erstmals nach Deutschland zurück, um in der Paulskirche seine große "Rede an die Deutschen" zu halten. Es war die Rückkehr aus dem amerikanischen Exil in ein durch die Nationalsozialisten materiell und geistig verwüstetes Land.
    "So verhehlen wir nicht, wir 1948er, dass die Argusaugen militärischer Besatzung durch die Fenster spähen."
    Fritz von Unruh, ein Großneffe von Heinrich von Gagern, dem Präsidenten der Nationalversammlung von 1848, war ein leidenschaftlicher Redner. Seine eindringlichen Ausführungen bewegten ihn selbst so tief, dass er zwischenzeitlich am Rednerpult zusammenbrach und seinen Vortrag erst nach einiger Zeit fortsetzen konnte.
    In seiner Ansprache schlug er einen Bogen von den Freiheitsforderungen des ersten gesamtdeutschen Parlaments bis zur Wiedereröffnung der Paulskirche und verurteilte dabei jede Form von Opportunismus.
    "Hinweg mit dem ganzen Geschmeiß, das uns das Recht auf unsere Zerknirschung schon wieder fortschwatzen will. Das ganze Rudel der Mitläufer, Beamten, Professoren und Generale, die gestern pro Hitler und vorgestern Pro-Weimar und vorvorgestern pro-Kaiser waren, hinweg mit ihnen!"
    Unruh, ein unermüdlicher Warner vor Kadavergehorsam und Untertanengeist, plädierte für die politische und moralische Erneuerung Deutschlands. Scharf kritisierte er die halbherzige Entnazifizierung und Demokratisierung.
    Appelle gegen Wiederbewaffnung und Aufrüstung
    "Widerstehen wir, wenn uns die ewigen Kompromissler und Ablasskrämer unserer Epoche das Gewissen wieder einlullen und korrumpieren wollen. Hinaus mit jenen feilen Wechslern geistiger Werte, mit jenen eitlen Akteurs, die sich gestern dieser und heute wieder jener Rolle anpassen chamäleongleich. Hinweg mit ihnen, die immer sagen, hier steh ich, ich kann auch anders. Hinweg mit ihnen!"
    Die Euphorie hinsichtlich eines geistigen Neuanfangs in Deutschland, von der Unruhs "Rede an die Deutschen" 1948 noch getragen war, wich angesichts der restaurativen Tendenzen schon bald der Ernüchterung. Seine Appelle gegen Wiederbewaffnung und Aufrüstung wollte niemand mehr hören, sein Engagement für Vernunft, Weltfrieden und Völkerverständigung fand wenig Resonanz, seine Werke wollte kaum noch jemand sehen oder lesen.
    1962 erklärte Fritz von Unruh in einem Interview.
    "Ich geh meinen Weg weiter, unbekümmert, ob man mich anerkennt oder nicht anerkennt. Ich kämpfe für dieses Ideal, das ich im Krieg erkannt habe, weiter. Das spielt heute keine Rolle mehr für mich, ob man mich aufführt, ob man meine Bücher druckt."
    1970 starb Fritz von Unruh weitgehend unbeachtet im Alter von 85 Jahren. Zehn Jahre zuvor hatte die New York Times noch geschrieben, Unruh sei der einzige deutsche Dichter von Weltgeltung, den die Deutschen nach dem Tode von Thomas Mann noch aufzuweisen hätten.