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Vor 75 Jahren
Das Warschauer Getto wurde abgeriegelt

Eine halbe Million Menschen waren im Warschauer Getto auf engstem Raum eingesperrt und mussten unter unsäglichen Bedingungen ihr Leben fristen. Am 15. November 1940 wurde das Gebiet abgeriegelt - es war der Beginn eines meist tödlichen Martyriums.

Von Doris Liebermann | 15.11.2015
    Bewacht von einem deutschen Soldaten stehen Bewohner des Warschauer Gettos mit erhobenen Armen in einem Innenhof.
    Bewacht von einem deutschen Soldaten stehen Bewohner des Warschauer Gettos mit erhobenen Armen in einem Innenhof. (dpa)
    "Vor unseren Augen wird ein Kerker gebaut, in dem eine halbe Million Männer, Frauen und Kinder schmachten wird, und niemand weiß wie lange."
    Das schrieb der Hebräischlehrer Chaim Aaron Kaplan 1940 in sein Tagebuch. Es bestand aus einzelnen kleinen Notizbüchern, die ein Freund aus dem Warschauer Getto schmuggeln konnte und die den Zweiten Weltkrieg überdauerten. Kaplan, Rektor einer hebräischen Schule, der vermutlich Ende 1942 in Treblinka ums Leben kam, schildert darin das Martyrium der polnischen Juden, die im Warschauer Getto eingepfercht wurden. Viele Prominente befanden sich unter ihnen: der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der Pianist Władysław Szpilman, der Pädagoge Janusz Korczak, der Politiker Bronisław Geremek und der Kardiologe Marek Edelman, Kommandeur des Getto-Aufstandes von 1943.
    Vor dem Zweiten Weltkrieg befand sich in Warschau die größte jüdische Gemeinde Europas, nach New York war es die zweitgrößte der Welt. 380.000 Juden lebten in der polnischen Hauptstadt, sie machten etwa 30 Prozent der Gesamteinwohner aus. Als nach dem deutschen Überfall auf Polen die ersten deutschen Soldaten im Oktober 1939 in Warschau einzogen, richteten sich ihre Gewaltexzesse vor allem gegen orthodoxe Juden in Kaftan, mit Schläfenlocken und Bart. Marcel Reich-Ranicki beschreibt es in seiner Autobiografie so:
    " ... kaum war die Wehrmacht in die Stadt marschiert, da ging es gleich los, da begann schon das große Gaudium der Sieger, das unvergleichliche Vergnügen der Eroberer – die Jagd auf die Juden."
    Nicht nur das: die Verfolgten wurden gezwungen, ihre eigene Diskriminierung selbst zu organisieren. Dafür schufen die Nationalsozialisten den sogenannten "Judenrat", ein Gremium, das meist aus Menschen bestand, die vor dem Krieg eine Rolle in der jüdischen Gemeinde gespielt hatten. Für die Ausführung der deutschen Befehle mussten sie mit ihrem Leben haften.
    Im April 1940 mussten jüdische Arbeiter mit dem Bau von Mauern beginnen
    Von Kriegsbeginn an gab es bei den Nationalsozialisten Bestrebungen, die Juden zu isolieren – meist unter verdeckten Namen wie "Seuchensperrgebiet", "Jüdisches Wohnviertel" oder "Jüdischer Wohnbezirk". Ab April 1940 mussten jüdische Arbeiter mit dem Bau von Mauern um das spätere Getto beginnen, 18 Kilometer sollten es werden, und drei Meter hoch. Anfang Oktober 1940 wurde die Verordnung zur Errichtung eines "jüdischen Wohnbezirks" nordwestlich vom Zentrum der Stadt mit genauer Festlegung der dazugehörigen Straßen beschlossen. Am 12. Oktober 1940, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, erfuhren die Warschauer per Megafon von der Errichtung des Gettos. Schon bis Ende des Monats sollten alle außerhalb lebenden Juden dorthin umgezogen sein. Bis dahin mussten sie ihre Wohnungen mit nicht-jüdischen Warschauern tauschen, die noch im Getto-Gebiet wohnten.
    "Überall herrschte wilde Panik. Leute rannten besessen durch die Straßen, tödliche Angst in ihren verweinten Gesichtern. Verzweifelt suchten sie nach irgendeiner Art von Transportmittel, um ihre Habe zu befördern."
    So erinnerte sich nach dem Krieg der Politiker Bernard Goldstein, auch er ein Insasse des Warschauer Gettos. Ende Oktober gelang es dem "Judenrat", eine Fristverlängerung bis Mitte November auszuhandeln, da 50.000 Menschen noch nicht untergebracht waren. Am 15. November 1940 lief die Frist ab: das Getto wurde abgeriegelt. Über 380.000 Menschen lebten nun eingeschlossen auf engstem Raum und durften nur noch mit ausdrücklicher Erlaubnis der Besatzungsbehörden das Getto verlassen. Insgesamt wurden eine halbe Million Menschen ins Getto gezwungen, später auch aus anderen polnischen Gegenden und dem Deutschen Reich. 300.000 Menschen starben 1942/'43 in den Gaskammern von Treblinka. Tausende wurden während des Warschauer Getto-Aufstandes im April 1943 erschossen.
    Nach dem Ende der deutschen Besatzung war vom reichen polnisch-jüdischen Leben der Vorkriegszeit kaum noch etwas übrig: Nur wenige tausend Juden hatten die deutsche Besatzung überlebt.