Freitag, 29. März 2024

Archiv

Vor 75 Jahren
Der Beginn des "Brünner Todesmarsches"

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mehr als drei Millionen Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben. Im Januar 1946 begann der offizielle Transfer. Doch schon am 31.05 1945, vor 75 Jahren, begann die wilde Vertreibung der Brünner Deutschen nach Österreich.

Von Doris Liebermann | 31.05.2020
    Sudetendeutsche werden am 1. Januar 1946 aus der Tschechoslowakei in Richtung Bayern geschickt.
    Sudetendeutsche am 1. Januar 1946 (picture-alliance / CTK)
    "Das war der Tag vor Fronleichnam, da kam plötzlich gegen 18 Uhr der tschechische Hausmeister und hat uns die Mitteilung gebracht mit den Worten: Ihr müsst hier heraus. Nehmt jeder Decken mit, nehmt für drei Tage Verpflegung und warme Kleidung mit, Ihr werdet interniert. Ihr müsst Euch um 18 Uhr auf der Straße vor dem Haus versammeln und werdet dann ins Internierungslager gebracht."
    So erinnerte sich der Ingenieur Walter Saller an den Beginn der sogenannten wilden Vertreibung der Deutschen aus Brünn. In diesem historischen Zentrum Mährens hatten jahrhundertelang Deutsche, Tschechen und Juden zusammengelebt.
    Viele Hitler-Anhänger in der Tschechoslowakei
    Mehr als die Hälfte der Brünner Bewohner waren Deutsche. Auch sie waren tschechoslowakische Staatsbürger, seit 1918 nach dem Zerfall des Habsburger Reiches die Tschechoslowakische Republik entstanden war.
    Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in das Sudetenland im Oktober 1938, die Besetzung der sogenannten Rest-Tschechei im März 1939 und die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges hatten die deutsch-tschechischen Beziehungen schwer belastet. Auch unter den Deutschen in der Tschechoslowakei hatte Hitler viele Anhänger gefunden.
    Als Reaktion auf den deutschen Herrenmenschenwahn kochte nach dem Krieg der tschechoslowakische Nationalismus auf Hochtouren: Ob sich jemand nationalsozialistischer Verbrechen schuldig gemacht oder Widerstand gegen Hitler geleistet hatte, wurde nicht unterschieden. Es galt die Kollektivschuld für alle Sudetendeutschen, wie der politische Sammelbegriff lautet.
    "Meines Wissens waren da keine stadtbekannten Nazis, überhaupt keine. Die haben sich schon vorher gut abgesetzt. Ich habe keinen einzigen Nazi gesehen."
    Auch Helfried Maria Nowak gehörte zu den 27.000 deutschen Frauen, Kindern und Männern über 60, die sich nach einem Erlass des Nationalausschusses Groß-Brünn vom 30. Mai 1945 an Sammelstellen einfinden mussten. Ihr Besitz wurde konfisziert. Die jüngeren deutschen Männer befanden sich in Kriegsgefangenschaft oder waren in der Umgebung von Brünn interniert.
    2.000 Menschen starben durch Folter, Vergewaltigungen, Mord
    Am 31. Mai 1945 – Fronleichnam - setzte sich die Kolonne in Marsch: Richtung Süden zur etwa 60 Kilometer entfernten österreichischen Grenze. Angetrieben wurde sie von tschechischen Revolutionsgarden.
    "Die Behandlung war allgemein sehr schlecht und brutal. Jeder hatte eine Peitsche und einen Karabiner. Sie haben geschlagen, sie haben mit Gewehrkolben die Leute aufgefordert, weiterzugehen, wenn sie nicht mehr konnten."
    Erste Station war die Kleinstadt Pohrlitz, wo die vom Regen durchnässten Menschen auf dem kalten Betonboden von Lagerhallen schlafen mussten. Es gab die ersten Toten – es sollten mindestens 2.000 Menschen sterben: durch Krankheiten und Strapazen, durch Folter, Vergewaltigungen und Mord.
    "Die Österreicher wollten uns ja auch nicht haben"
    Erschöpft erreichten erste Teile des Zuges österreichisches Gebiet. Kranke und Schwache blieben tagelang ohne Essen und Trinken zurück.
    "Wir haben dann als lose Kolonne den Weg weiter durchgeführt bis nach Wien. Doch damit war noch nicht das Ende dieser Vertreibung. Denn die Österreicher wollten uns ja auch nicht haben."
    Erst zwei Monate später, am 2. August 1945, stimmte die Konferenz von Potsdam der Vertreibung der Sudetendeutschen zu: Mehr als drei Millionen Menschen wurden ab 1946 aus der Tschechoslowakei ausgesiedelt. Ein Tabuthema zu sozialistischen Zeiten.
    Im Jahr 2000 appellierten Brünner Studenten um den heutigen Grünen-Politiker Ondřej Liška an die Lokalpolitiker, sich für die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Stadt zu entschuldigen.
    Junge Tschechen verlangten Erklärungen
    "Der Aufruf wurde dem Brünner Bürgermeister per E-mail geschickt und nichts weiter haben wir erwartet, aber daraus wurde ein Skandal, eine Schandtat, dass die jungen Tschechen von den älteren Leuten, den Politikern und der älteren Generation, wollen, dass sie jetzt erklären, was damals passiert ist."
    Seither kam vieles in Bewegung: Es sind deutsch-tschechische Gedenkstunden abgehalten, Versöhnungsmärsche organisiert, Mahnmale errichtet worden. Es wurden Bücher geschrieben, Filme gedreht, Theaterstücke aufgeführt - vor allem junge Tschechen setzen sich kritisch mit dem Thema "Vertreibung" auseinander.