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Vor 75 Jahren
Der Tod des sowjetischen Schriftstellers Jewgeni Petrow

Den satirischen Roman "Zwölf Stühle" kennt bis heute jedes Schulkind in Russland. Geschrieben hat ihn das Autoren-Duo Jewgeni Petrow und Ilja Ilf. Sie gehörten zu den letzten Vertretern einer russischen Avantgarde vor dem Terror-Regime des Diktators Josef Stalin. Jewgeni Petrow starb am 2. Juli 1942.

Von Martin Tschechne | 02.07.2017
    Die russischen Schriftsteller Jewgeni Petrow und Ilya Ilf (rechts) bei der Arbeit.
    Der Roman "Die zwölf Stühle" des Autoren-Duos Jewgeni Petrow und Ilya Ilf eroberte sogar Hollywood. (imago stock&people)
    Im Dezember 1919, gut zwei Jahre nach der Oktoberrevolution, machte Lenin seinem Volk ein großes Geschenk: Er lehrte es lesen. Und als der Sieg über den Analphabetismus errungen, als das Dunkel der Zarenzeit vertrieben war – da entdeckten die Bürger der jungen Sowjetunion das Glück der Lektüre. Vielleicht weniger in den Pamphleten der Partei als in den Romanen von Boris Pilnjak, Isaak Babel, Wladimir Majakowski oder Jewgeni Petrow – von dem der russische Literaturwissenschaftler Andrej Bogen allerdings sagt, er spiele in der Avantgarde seiner Zeit eine ganz eigene Rolle:
    "Eigentlich gibt es keinen Schriftsteller Jewgeni Petrow. Es gibt einen Schriftsteller, er heißt Ilf und Petrow. Ilja Ilf und Jewgeni Petrow."
    Ein Schriftsteller, zwei Personen
    Ein Schriftsteller, aber zwei Personen: Jewgeni Petrow, geboren 1903 in Odessa, Sohn eines Lehrers, jüngerer Bruder des erfolgreichen Schriftstellers Walentin Katajew; und Ilja Ilf, sechs Jahre älter, aus einer jüdischen Familie ebenfalls in Odessa – sie begegneten sich in Moskau und arbeiteten fortan als Autoren-Duo. Ilf und Petrow: Der eine schrieb, der andere redigierte; dann wechselten sie sich ab. Sie debattierten, stritten sich, manchmal musste das Los über den Fortgang einer Handlung entscheiden.
    Aber gerade aus dieser Arbeitsweise resultierte eine Frische, die das Publikum mitriss. Der Roman "Zwölf Stühle", 1928 erschienen, unterlief alle Begriffsraster der Zensur und der Kritik: eine Gaunerkomödie, eine Satire, rasant geschnitten, spannend und witzig.
    "In den Sitz einer der Stühle habe ich meine Brillanten eingenäht",
    seufzt also die Schwiegermutter auf dem Sterbebett, und die Jagd nach dem Schatz beginnt, immer auf Kollisionskurs mit der Ideologie und schnurstracks auf ein groteskes Ende zu. Toller Stoff für das Kino! Tatsächlich wurde "Zwölf Stühle" vielfach verfilmt, unter anderem 1970 von Mel Brooks in Hollywood. Aber Vorsicht, mahnt Andrej Bogen. Der Roman mag ein Kultbuch sein, irgendwann dann doch zensiert, zeitweilig ganz verboten, aber heute jedem Schulkind in Russland vertraut – ihn einfach nur komisch zu nennen: Das wäre zu wenig.
    "Komisch, aber ernsthaft. Komisch, aber philosophisch. Komisch, aber psychologisch. Er zeigt die ganze Gesellschaft in diesem Zustand des Umbruchs."
    Gesellschaft in den Zeiten des Umbruchs
    Die 20er- und frühen 30er-Jahre waren eine Zeit, in der viele Intellektuelle auf Distanz gingen zum real existierenden Sozialismus. Kritiker wie Trotzki oder Bucharin wandten sich gegen das zentralistische System. Stalin ließ sie ermorden, wie alle, die sich ihm nicht unterwarfen. Für ein paar Jahre aber fanden Künstler und Schriftsteller noch Freiräume, den Absurditäten der sowjetischen Wirklichkeit mit ebenso absurdem Humor zu begegnen. Stalin habe viele ihrer Bücher sogar gelesen, sagt Andrej Bogen. Allerdings, so fügt er hinzu: Alles verstanden habe der Diktator wohl nicht.
    "Es gibt manche Notizen von Stalin auf verschiedenen Büchern, verschiedenen Werken. Sie sehen ziemlich komisch aus. Aber im Prinzip er hat versucht."
    So konnte es passieren, dass Ilf und Petrow noch 1935 im Auftrag der Parteizeitung "Prawda" nach New York reisten, um mit dem Auto ein halbes Jahr lang kreuz und quer durch die USA zu fahren. Was sie dort fanden und beschrieben, gleich hinter den Wolkenkratzern der Ostküste, war ein Land, das sie das "eingeschossige Amerika" nannten – ein weites, gastfreundliches, aber kleinstädtisches Land mit Menschen, deren Freiheit nicht größer und deren Horizont nicht weiter war als der ihrer eigenen Landsleute, die doch gerade erst das Lesen gelernt hatten.
    "Es war schon davon die Rede, dass der Amerikaner bei all seinem Geschäftssinn eine passive Natur ist. Einem Hearst oder den Bossen von Hollywood gelingt es, gute, ehrliche Durchschnittsamerikaner auf das geistige Niveau von Wilden herabzuziehen."
    Glück im Unglück
    Ilya Ilf starb 1937 an Tuberkulose, Jewgeni Petrow am 2. Juli 1942 beim Absturz eines Flugzeuges von Sewastopol nach Moskau. Verglichen mit dem, was andere Intellektuelle unter dem Terror Stalins erlitten hatten und erleiden sollten, so meint Andrej Bogen – verglichen damit hätten sie noch Glück gehabt.