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Vor 75 Jahren
Konzert für Überlebende des Konzentrationslagers Bergen-Belsen

Um die überlebenden Opfer der Nazi-Barbarei wieder an Kunst und Kultur teilhaben zu lassen, traten Yehudi Menuhin und Benjamin Britten im befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen auf. Die Zuhörer reagierten auf das Konzert teils überfordert, teils tief berührt.

Von Bert-Oliver Manig | 27.07.2020
    Der weltberühmte Geiger Jehudi Menuhin während eines Konzerts gemeinsam mit dem erweiterten Zürcher Kammerorchester am 30.03.1963 in der Jahrhunderthalle in Frankfurt-Höchst.
    Yehudi Menuhin während eines Konzerts am 30.03.1963 in der Jahrhunderthalle in Frankfurt-Höchst. (picture alliance/dpa/Heinz-Jürgen Göttert)
    Im Hochsommer 1945 fuhren ein aufstrebender englischer Komponist und ein weltberühmter amerikanischer Geiger in einem kleinen Pkw über holprige Dorfstraßen in Westfalen und Niedersachsen. Benjamin Britten und Yehudi Menuhin hatten sich erst wenige Tage zuvor in London kennengelernt. Dort hatten beide die Bilder ausgezehrter Menschen gesehen, die nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen durch die britische Armee um die Welt gingen.
    Erschüttert vom Schicksal der jüdischen KZ-Häftlinge, die nun in britischer Obhut einer ungewissen Zukunft entgegensahen, hatte Menuhin Auftritte in den USA abgesagt und den Entschluss gefasst, vor den überlebenden Opfern in Deutschland Konzerte zu geben. Der jüngst als Komponist der Oper "Peter Grimes" gefeierte Benjamin Britten hatte Menuhin spontan angeboten, ihn auf der Reise als Pianist zu begleiten.
    Auf den näherliegenden Gedanken an Wohltätigkeitskonzerte zugunsten der "Displaced Persons" war Menuhin bezeichnenderweise gar nicht gekommen. Er wollte unmittelbar etwas für die Menschen in den Lagern tun. Seit seinen Tagen als Wunderkind empfand Menuhin die Musik als ihm geschenkte Stimme, als Auftrag, der Welt Freude und Heilung zu bringen.
    Konzert vor traumatisierten Lagerinsassen
    Auf ihrer improvisierten Deutschland-Reise spielten Menuhin und Britten mehrmals am Tag in Lagern vor ehemaligen Zwangsarbeitern. Am 27. Juli 1945 erreichten sie Bergen-Belsen und gaben dort noch am selben Abend ein Konzert vor den traumatisierten Lagerinsassen.
    Unter den Zuhörern war die damals 20-jährige Cellistin Anita Lasker, die in einem Brief berichtete:
    "Freitag war also tatsächlich Yehudi Menuhin hier in Belsen Camp… Dass Menuhin geigerisch vollendet gespielt hat, ist wohl überflüssig zu erwähnen, aber ich war ein klein bisschen enttäuscht. Mag sein, dass ihn die hiesige Atmosphäre nicht gerade angeregt hat. Es war unmöglich, vollständige Ruhe im Saale zu erzielen. Ich habe mich manchmal richtig für das Publikum geschämt. Ein Wunder, dass er nicht mittendrin abgebrochen hat. Was seinen Begleiter betrifft, so kann ich nur sagen, dass ich mir etwas Wunderbareres kaum vorstellen kann. Ich musste wie gebannt auf diesen Mann sehen, der auf seinem Stuhl saß, als ob er nicht bis Drei zählen könnte, und so vollendet schön spielte."
    15.04.2020, Niedersachsen, Bergen: Ein Mann geht durch die Gedenkstätte Bergen-Belsen. Genau vor 75 Jahren, am 15. April 1945, wurde das Konzentrationslager Bergen-Belsen von britischen Soldaten befreit. Aufgrund der Corona-Pandemie ist es ein sehr stilles Gedenken: Kaum ein Besucher oder gar Zeitzeugen findet den Weg zum ehemaligen KZ-Gelände im Landkreis Celle. Foto: Julian Stratenschulte/dpa | Verwendung weltweit
    Holocaust-Gedenken in Coronazeiten
    500 Holocaust-Überlebende und deren Angehörige zu einer Gedenkveranstaltung anreisen zu lassen, ist in Coronazeiten nicht möglich. Ausfallen sollte die Veranstaltung aber auch nicht, deshalb findet sie online statt.
    Andere im Publikum hatten von einem jüdischen Geiger wohl eher Folkloristisches erhofft als deutsche Klassik. Das anspruchsvolle Programm – Bach, Mendelssohn, Debussy und Beethovens große Kreutzer-Sonate – überforderte viele Zuhörer. Doch einige waren auch tief berührt, wie sich Yehudi Menuhin zeitlebens erinnerte:
    "Die waren noch sehr ‚bewildered‘ – wie sagt man? – die haben sich nicht finden können. Die konnten an das Gute nicht mehr glauben. Die konnten kaum glauben, dass jemand gekommen ist, denen vorzuspielen. Und diese Leute haben das nie vergessen. Ich bekomme noch heute Briefe von diesen Menschen, die damals bei dem Konzert waren und die jetzt in Australien, überall in der Welt … Das haben die nie vergessen."
    Glaube an die heilende und verbindende Kraft der Musik
    Menuhin sah sich durch die Erfahrung dieses Konzerts in seiner Überzeugung bestätigt, dass er als privilegierter Künstler eine besondere Verantwortung bei der Rückkehr zu Humanität und Kultur trug. Zwei Tage nach dem Konzert in Belsen wirkte er in Hamburg spontan bei der Rundfunk-Aufführung von Mendelssohns Violinkonzert mit, das im Dritten Reich von den deutschen Spielplänen verschwunden war. Hartnäckig setzte sich Menuhin aber auch für die Rehabilitierung des zunächst mit Berufsverbot belegten Dirigenten Wilhelm Furtwängler ein. 1947 hieß der Solist bei Furtwänglers ersten Nachkriegskonzerten Yehudi Menuhin.
    Der kulturelle Wiederaufbau in Europa schloss für Menuhin die Versöhnung mit den Deutschen von vornherein mit ein – deshalb wurde er von Opfern des Nationalsozialismus sogar boykottiert, als er 1947 in Berlin erneut ein Konzert vor Displaced Persons gab.
    Der Glaube an die heilende und verbindende Kraft der Musik mutet politisch naiv an. Doch für Yehudi Menuhin und Benjamin Britten war er eine überzeugendere Antwort auf die größte Barbarei der Geschichte, als es die Flucht in die Elfenbeintürme des bürgerlichen Musikbetriebs oder einer autonomen Avantgarde hätten sein können.