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Vor 75 Jahren
Schriftstellerin Irène Némirovsky gestorben

In den 30er-Jahren war die Schriftstellerin Irène Némirovsky ein Star der französischen Literaturszene, danach wurde sie vergessen. Doch als 2004 ihr unvollendetes Manuskript "Suite française" entdeckt wurde, war dies eine Sensation. In 38 Sprachen übersetzt, verkaufte sich der Roman zweieinhalb Millionen Mal.

Von Maike Albath | 17.08.2017
    Das undatierte Portrait zeigt die jüdische Autorin Irene Nemirovsky. Elegant, eloquent und empfindsam: Das war die aus Russland stammende 1903 geborene jüdische Autorin Irène Némirovsky, Star der französischen Literaturszene der 30er-Jahre. Die Schriftstellerin wurde 1942 deportiert und in Ausschwitz ermordet. Foto: imec-archives (ACHTUNG: nur zur redaktionellen Verwendung)
    Undatiertes Porträt: Irene Nemirovsky ist in den 1930ern Star der französischen Literaturszene (dpa / picture alliance / imec archives)
    Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bringt eine elegante Dame ihre beiden Töchter nach Issy-l’Évêque ins Burgund, überlässt sie der Obhut einer Gouvernante und kehrt nach Paris zu ihrem Mann zurück. Doch im Juni 1940 marschieren die Deutschen ein, Frankreich kapituliert, Rassengesetze treten in Kraft, und einige Monate später reist das Ehepaar den Kindern nach. In Paris hatte Madame ein reges Gesellschaftsleben geführt, schließlich zählte sie zu den berühmtesten Schriftstellerinnen Frankreichs. Nun ist alles anders.
    "Mein Gott! Was tut dieses Land mir an? Da es sich von mich stößt, betrachten wir es kalten Bluts und schauen zu, wie es seine Ehre und sein Leben verliert. Die Reiche vergehen. Bewahren wir einen kühlen Kopf. Verhärten wir unser Herz. Warten wir."
    Schwere Kindheit entschädigt durch Geld statt Liebe
    Irène Némirovsky, 1903 als Tochter eines jüdischen Bankiers in Kiew geboren, kannte das Gefühl der Heimatlosigkeit. Nach der Russischen Revolution hatte ihre Familie fliehen müssen und war über Finnland und Schweden nach Frankreich gelangt. Der Vater rettete einen Teil seines Vermögens und ermöglichte Irène alles, was einer Pariser Großbürgerin zustand. Mehr Zuwendung erfuhr sie nicht; ihre Mutter war kalt und gleichgültig. 1921 schrieb sich Irène für Literaturwissenschaften an der Sorbonne ein, brachte einige Erzählungen in Zeitschriften unter und schickte Postkarten von der Côte d’Azur:
    "Ich bin außer Rand und Band, wie eine Verrückte, wie beschämend! Ich tue nichts außer zu tanzen. In den Hotels gibt es jeden Abend eine schicke Gala, und da ich das Glück habe, über den einen oder anderen Gigolo zu verfügen, amüsiere ich mich köstlich!"
    Die ersten schriftstellerischen Erfolge
    Das Glamour Girl heiratete 1926 den russisch-jüdischen Ingenieur Michel Epstein, der bei einer Bank arbeitete. Drei Jahre später landete die junge Frau mit ihrem Roman "David Golder" über einen heimtückischen Geschäftsmann einen Coup. Von der Literaturkritik gefeiert, stieß ihr Buch wegen der karikierenden Darstellung des jüdischen Helden auch auf den Beifall erklärter Antisemiten. In rascher Folge publizierte Némirovsky Novellen und Romane und wurde im Handumdrehen zu einer umschwärmten Größe der Pariser Salons. Obwohl ihr die französische Staatsbürgerschaft mehrfach verweigert wurde, hatte sie keine Berührungsängste mit dem reaktionären Teil Frankreichs und veröffentlichte in rechten und offen antisemitischen Blättern. 1939 trat sie zum Katholizismus über und missachtete den Ratschlag ihrer Freunde, in die Schweiz zu fliehen. Auf dem Land bei ihren Töchtern begann Irène mit der Arbeit an einem neuen Manuskript. Mit ihrem Füllfederhalter, einem Geschenk ihres Mannes, füllte sie mit blauer Tinte in winziger Schrift Seite um Seite mit bedrängenden Schilderungen der deutschen Besatzung.
    "Warm, dachten die Pariser. Frühlingsluft. Es war Nacht im Krieg, Alarm. Aber die Nacht vergeht, der Krieg ist weit. Alle, die nicht schliefen, die Kranken in ihrem Bett, die Mütter, deren Söhne an der Front waren, die liebenden Frauen mit ihren tränenwelken Augen hörten den ersten Atemzug der Sirene. Noch war es ein tiefes Einatmen gleich dem Seufzer, der einer beklommenen Brust entweicht."
    62 Jahre nach ihrem Tod: Romanmanuskript veröffentlicht
    Dass sie im Juni 1942 ihren Füller verlor, deutete sie als Vorzeichen. Irène Némirovsky ahnte, was auf sie zukam. Statt in der etwas weniger gefährlichen, nahegelegenen "freien Zone" Zuflucht zu suchen, ließ sie ihren Lektor am 11. Juli wissen: "Ich schreibe derzeit viel. Ich denke, es wird ein posthumes Werk werden. Doch auf diese Weise vergeht die Zeit".
    Zwei Tage später klingelten zwei Gendarmen an der Tür. Sie müsse eine kleine Reise antreten, erklärte die Neununddreißigjährige ihren Töchtern. Sie kam nach Auschwitz. Angegriffen von Asthma starb Irène Némirovsky am 17. August im Krankenbau von Birkenau an Typhus. Michel Epstein übergab kurz vor seiner Deportation den Kindern einen Lederkoffer. Ein schwer entzifferbarer Papierstapel entpuppte sich Jahrzehnte später als Vermächtnis der Mutter. Der unvollendete Roman "Suite française" erschien 2004 und wurde zu einem internationalen Erfolg.