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Vor 75 Jahren
Tod des russischen Schriftstellers Michail Ossorgin

Lange Zeit war sein Name vergessen, seine Wiederentdeckung wurde als literarische Sensation gefeiert: Der russische Schriftsteller Michail Ossorgin. Er verbrachte fast die Hälfte seines Lebens im Exil in Frankreich. In seinen Romanen verarbeitete er seine Erfahrungen in Russland und der Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Von Ursula Keller | 27.11.2017
    Die Kreml-Mauer mit dem Erlöserturm (l-r) und Nikolausturm und die Basilius-Kathedrale im Zentrum der russischen Hauptstadt Moskau.
    Michail Ossorgins Buch "Eine Straße in Moskau" schildert seine Erfahrungen während und nach dem Epochenjahr 1917 (dpa / picture-alliance)
    "Ich hatte davon geträumt, wieder in Russland leben und arbeiten zu können, war aus der Emigration zurückgekehrt, hatte an die Revolution geglaubt und zu vieles an ihr gerechtfertigt. Und jetzt war ich ‚Volksfeind‘, Konterrevolutionär; wieder Gefängnis, wieder Verbannung, alles, was ich schon unter dem Zarenregime erlebt hatte, in derselben Abfolge, mit denselben bekannten Einzelheiten."
    Bilanziert der Schriftsteller Michail Ossorgin bitter in seinen posthum erschienenen Erinnerungen.
    Wie vielen anderen Vertretern der liberalen russischen Intelligenzija stehen dem 1878 in Perm im Ural geborenen Ossorgin die Ideen der Kämpfer für eine neue Gesellschaftsordnung nahe. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaften in Moskau tritt er der radikalen Partei der Sozialrevolutionäre bei.
    "Auf meiner Schreibmaschine wurden leidenschaftliche und flammende Proklamationen geschrieben und meine Wohnung wurde zum Ort von Versammlungen."
    Nach der bewaffneten Erhebung im Dezember 1905, die Lenin später als "Generalprobe" für die Oktoberrevolution 1917 bezeichnete, wird Ossorgin verhaftet. Er kann ins Ausland fliehen und lebt zehn Jahre im Exil in Italien, wo er als ständiger Autor angesehener liberaler russischer Zeitschriften und Zeitungen arbeitet.
    Lenin verweist Ossorgin des Landes
    Zwei Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs kehrt er ins Zarenreich zurück. Die Revolutionen des Jahres 1917 erlebt er in Moskau.
    "Der Umsturz der sozialen Ordnung war unvermeidbar und notwendig, und er konnte sich nur auf grausame und blutige Weise vollziehen. Aber dafür, dass die alte Knechtschaft gegen eine neue eingetauscht wurde, hätte niemand sein Leben geben müssen."
    Nach dem Oktober-Coup der Bolschewiki versucht Ossorgin sich mit den politischen Verhältnissen zu arrangieren. Doch als die Bolschewikí beginnen, sich ihrer als "bürgerliche Volksverderber" und "antisowjetische Elemente" bezeichneten Gegner zu entledigen, gerät auch Ossorgin ins Visier. Er ist einer jener 224 Vertreter der russischen Intelligenzija, die zwischen Sommer und Herbst 1922 auf persönlichen Befehl Lenins unter dem Codenamen "Operation Philosophenschiff" des Landes verwiesen und über den Seeweg ins Ausland abgeschoben werden.
    "Wir haben diese Leute ausgewiesen, weil es keinen Grund gab, sie zu erschießen, sie zu ertragen aber war unmöglich",
    kommentiert Lenins Kampfgefährte Leo Trotzki die beispiellose Aktion.
    Ossorgin lässt sich in Paris nieder. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Intellektuellen unter den russischen Emigranten kann Ossorgin zwar vom Schreiben leben, allerdings mehr schlecht als recht.
    "Ich bin ein alter Zeitungsarbeiter, verdiene aber kaum genug für die Miete, für Essen reicht es schon nicht mehr", berichtet er.
    Er stirbt als staatenloser Flüchtling
    Erst spät beginnt Ossorgin, Romane zu schreiben. 1928, da ist er bereits fünfzig Jahre alt, wird in Paris sein Debutroman Síwzew Wráshek veröffentlicht, zu deutsch: Eine Straße in Moskau, in dem der Schriftsteller die Jahre in Moskau vor, während und nach dem Epochenjahr 1917 mit seinen zwei Revolutionen schildert. Die englische Übersetzung "A quiet street" avanciert zum Bestseller.
    "Ich schreibe keine Literatur, ich beschreibe das Leben", heißt es in Ossorgins Erinnerungen.
    In seinen Romanen schildert er das Revolutionsgeschehen in Russland aus dem Blickwinkel des Zeugen jener Epoche. Zugleich sind seine Werke Reflexionen über die Frage, inwieweit Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung zu akzeptieren sei und damit auch heute wieder von aktueller Brisanz.
    Nach der Besatzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten 1940 wird der Schriftsteller erneut von den politischen Ereignissen überrollt.
    "Als meine Frau und ich zu Fuß von der Bahnstation eines kleinen Städtchens kommend die feindliche Linie zu einem anderen kleinen Städtchen überquerten, trugen wir nur einen Koffer, in dem sich etwas Wäsche zum Wechseln befand, sowie einen Karton mit Konserven und eine Flasche frischen Wassers mit uns – das war die gesamte Habe, die uns geblieben war, alles andere hatten wir in Paris zurücklassen müssen."
    Die letzten fünf Jahre bis zu seinem Tod lebt Ossorgin ohne Pass und stirbt als staatenloser Flüchtling am 27. November 1942 im zentralfranzösischen Chabris. Die ihm gebührende Anerkennung in seiner Heimat Russland findet er erst nach dem Zusammenbruch der
    Sowjetunion.