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Vor 90 Jahren
Uraufführung des Films "Melodie der Welt" von Walter Ruttmann

Mit seinen farbigen Kurzfilmexperimenten schuf Walter Ruttmann Anfang der Zwanzigerjahre Musterbeispiele der Neuen Sachlichkeit. Seine Reisecollage "Melodie der Welt", die heute vor 90 Jahren uraufgeführt wurde, war Werbefilm und sinfonische Dampffahrt um die Welt zugleich und verzichtet auf jegliche Handlung.

Von Katja Nicodemus | 12.03.2019
    Die Filmpioniere Lotte Reiniger (r) und Walther Ruttmann (M) bei der Betrachtung eines Filmstreifens. Person links vermutlich Carl Koch, Ehemann Reiningers.
    Die Filmpioniere Lotte Reiniger (r) und Walter Ruttmann (M) bei der Betrachtung eines Filmstreifens. Person links nicht identifiziert. (picture-alliance / Bildarchiv)
    Schon die Auftraggeberin dieses auf besondere Weise entstandenen Films ist eine Besonderheit: 1928 finanzierte die Hamburger Reederei Hapag einen Werbefilm. Die immerhin dreiviertelstündige Produktion sollte Reklame machen für Schifffahrten und Schiffstransporte. Der Titel: "Melodie der Welt"
    Weiß auf Schwarz erscheint zu Beginn das Motto des Films, ein Zitat des englischen Schriftstellers Oscar Wilde: "Das wahre Geheimnis der Welt liegt im Sichtbaren, nicht im Unsichtbaren." Absurderweise war Walter Ruttmann, offiziell Regisseur von "Melodie der Welt", gar nicht dabei, als die Aufnahmen des "Sichtbaren" auf der ganzen Welt entstanden. Eine Expedition hatte über Monate hinweg Bilder eingesammelt, in Europa, Indien, China, Japan, Nordamerika, Panama, Kuba. Walter Ruttmann setzte diese Bilder am Schneidetisch zusammen. Etwa zu Beginn: das Einziehen von gigantischen Ankerketten, die rotierende Kurbelwelle eines Schiffes, das Stampfen der Maschinen.
    Die weite Welt als Film montiert
    Eine Schnittsequenz der filmischen Weltreise zeigt Beerdigungen – in Europa, in der arabischen Welt, in Asien. Dann rituelle Tänze, dann Tempelfiguren. Die Ausschnitte sind nur kurz zu sehen, dann springt der Film zum nächsten Ort, zur nächsten Person, zur nächsten Tätigkeit. Heinz Pol, der Kritiker, der damals in Berlin erscheinenden traditionsreichen Vossischen Zeitung, zeigte sich nach der Premiere am 12. März 1929 begeistert von Ruttmanns Verfahren:
    "Plötzlich interessiert uns Geographie durchaus nicht mehr, unsere Sinne - nicht nur unsere Augen - umschleichen Menschen, Gesichter, Gebärden, Gebräuche. Plötzlich interessieren uns Vergleiche: wie macht man es hier, wie macht man es dort?"
    Allgemeine Haltungslosigkeit hatte der Filmwissenschaftler Siegfried Kracauer schon zwei Jahre zuvor den schnellen, sprunghaften Bild- und Tonmontagen von Walter Ruttmanns Film "Berlin – Die Sinfonie der Großstadt" attestiert. Kracauers Urteil über "Melodie der Welt" war ebenfalls vernichtend:
    "Die ‚Melodie der Welt‘ war inhaltsleer, weil Ruttmann in seinem Eifer, die Töne der ganzen Welt einzufangen, das Gehör verlor für den besonderen Klang jeder einzelnen Melodie."
    Eine gigantische Materialsammlung
    Und tatsächlich: Was erfährt man durch den Umschnitt von spielenden Jungs in Asien auf schneeballwerfende Schüler irgendwo in Europa? Was verraten uns die schnell aufgereihten Szenen über die Kinder, die hier zu sehen sind? Über ihr Leben, ihre Sorgen, ihren Alltag? In einem anderen Kapitel sehen wir kämpfende Menschen mit schwarzen Gürteln, dann sich anfauchende Raubkatzen, dann korpulente Ringer mit Lendenschürzen. Ist hier Mensch gleich Tier? Und wer, um alles in der Welt, ist da wo zu sehen?
    Durch das Fehlen einer Handlung, einer Erzählung, durch die Abwesenheit eines Regisseurs mit einer spezifischen Perspektive und ja: Haltung, wird "Melodie der Welt" zu einer gigantischen Materialsammlung, in der der einzelne Mensch austauschbar wird.
    Die Geschichte sollte jedenfalls der Kritik Siegfried Kracauers Recht geben: Walter Ruttmann, der radikale Formalist, der Mann, der das Kino von jeglichem Dienst, vom Zwang des Erzählens und Bedeutens befreien wollte, wurde Mitte der dreißiger Jahre zum Auftragsregisseur der Nazis. "Altgermanische Bauernkultur", "Blut und Boden", "Metall des Himmels" lauteten die Titel seiner Filme.
    Wolfgang Zeller wiederum, der Komponist von "Melodie der Welt", schrieb die Musik zu nationalsozialistischen Propagandafilmen wie "Thüringer Land – dem Führer die Hand."