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Vor dem CDU-Sonderparteitag
Eine Partei im Umbruch

Spätestens seit dem enttäuschenden Abschneiden bei der Bundestagswahl ist auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in der CDU nicht mehr unumstritten. Aber sie scheint entschlossen, den anstehenden Umbruch in der Partei mitgestalten zu wollen, wie erste Personalentscheidungen zeigen.

Von Stephan Detjen | 25.02.2018
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht im Rahmen einer Pressekonferenz. Merkel hat Annegret Kramp-Karrenbauer als künftige CDU-Generalsekretärin vorgeschlagen.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht im Rahmen einer Pressekonferenz. (imago / Inga Kjer / photothek.net)
    Mrs. May has a government, Mrs. Merkel doesn’t.
    "Theresa May hat eine Regierung, Angela Merkel nicht."
    "The German government is really weak at the moment because it isn’t even formed, it hasn’t even agreed it’s coalition. So compared to continental governments this government, her majesty’s government, is really pretty strong and stable."
    "Die deutsche Regierung ist wirklich schwach zu Zeit. Im Vergleich dazu ist die Regierung Ihrer Majestät ziemlich stark und stabil."
    Der Mann, der das mit sehr steifer Unterlippe im BBC Interview sagt, heißt Jacob Rees-Mogg, erzkonservativer Tory Politiker und Bannerträger der radikalsten Brexit-Befürworter im britischen Unterhaus. Von solchen Leuten muss sich Angela Merkel seit einem halben Jahr Spott und Häme gefallen lassen. Die Erosion der Macht beginnt an den Rändern. Im Ausland, wo Merkel stets der Inbegriff unerschütterlicher Stärke und Stabilität war. Oder in den hinteren Reihen der eigenen Bundestagsfraktion.
    Kanzlerin wird infrage gestellt
    "Ich gehe fest davon aus, dass sie weiß, wie die Partei tickt und sie kann erkennen, dass jeder auch das Verfallsdatum hat und ich erwarte deswegen, dass sie im Laufe der Legislaturperiode die Weichen stellt für eine geordnete Nachfolge."
    Olaf Gutting heißt der CDU-Bundestagsabgeordnete, der es zu bester Sendezeit ins ARD-Fernsehen schafft, weil er vor laufender Kamera sagt, was andere nur auf den Fluren und in Hintergrundgesprächen raunen. Niemand ist bisher so weit gegangen, die Kanzlerin selbst infrage zu stellen. Aber die Frage, wie lange die Zeit von Angela Merkel noch währt, ist auch in der eigenen Partei salonfähig geworden. Und so muss es fast zwangsläufig wirken, als stelle Merkel mit ihren Entscheidungen über die Neuaufstellungen in ihrem Kabinett und in der Partei zugleich die Ausgangsformation für die Ordnung einer Nach-Merkel-Ära in der CDU her.
    "Die Parteivorsitzende hat das statuarische Recht, eine Generalsekretärin oder einen Generalsekretär vorzuschlagen. Aber dieses Mal ist das eine ganz besondere Konstellation, das möchte ich ausdrücklich hier sagen."
    Erste Weiche für die eigene Nachfolge gestellt?
    Typisches Merkel-Sprech am vergangenen Montag, als sie Annegret Kramp-Karrenbauer als neue Generalsekretärin der CDU vorstellt. Vordergründig meint die Vorsitzende mit der "ganz besonderen Konstellation" wohl die Tatsache, dass sich eine amtierende Ministerpräsidentin gerade auf die protokollarisch niedrigere Stufe der Parteimanagerin herabgelassen hat. Es gibt aber wohl niemanden unter den Zuschauern im Atrium des Konrad-Adenauer-Hauses, der sich nicht fragt, ob Merkel in diesem Augenblick die erste Weiche für die eigene Nachfolge gestellt hat. Von einem "historischen Tag" spricht ein Präsidiumsmitglied. Merkel selbst attestiert der stets, wie sie selbst, nüchtern und pragmatisch auftretenden Kramp-Karrenbauer den Ehrgeiz und die Entschlossenheit, die unabdingbar sind, um die höchsten Gipfel politischer Macht zu erklimmen:
    "In dem Zusammenhang ist von ihr selbst auch die Idee gekommen, ob es eine Möglichkeit wäre, als Generalsekretären in der Partei zu arbeiten, und ich muss ganz ehrlich sagen: Mich hat diese Idee sehr berührt."
    Die angeblich "berührte" Kanzlerin steht in einem grünen Jackett neben Kramp-Karrenbauer, die ein Kleid trägt, dessen Oberteil orange-rosa wie eine Warnfarbe leuchtet. Merkel wirkt hochzufrieden. Die Frage eines Journalisten, ob sie hier gerade die eigene Nachfolgerin präsentiere, will sie zunächst überhört haben. Wenig später diese Szene zwischen Merkel und Kramp-Karrenbauer:
    "Sie ist die erste Frau in dem Amt."
    "Also jede Generalsekretärin und jeder Generalsekretär der CDU Deutschlands hat bisher…"
    "Ach nee (Lachen)..."
    "Ach so, nee" wirft Merkel ein. Die beiden Frauen biegen sich vor Lachen.
    "Entschuldigung, das war… eine echte… Fehlleistung. Oh je, oh je … sie ist in der Tat die zweite, ja."
    Merkel führte mehr als Generalin denn als Sekretärin
    Hat Merkel tatsächlich als einzige im Raum vergessen, dass sie selbst nach dem Ende der Ära Kohl 1998 zur ersten Generalsekretärin ihrer Partei gewählt worden war und aus diesem Amt zur Vorsitzenden und Kanzlerin aufstieg? Die Geschichte Merkels ist wie ein Drehbuch für jeden, der das Amt des Generalsekretärs als Sprungbrett an die oberste Parteispitze nutzen will.
    Sie hat in der Tat das Amt mehr als Generalin denn als Sekretärin geführt. Erinnert sich Bernhard Vogel, einst Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, dann in Thüringen und schließlich langjähriger Vorsitzender der parteinahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Merkel trat das Amt in einer für die CDU schon bald existenziellen Krise an. Nach 16 Jahren Kanzlerschaft Kohls war die Partei programmatisch ausgelaugt. Den Zeitpunkt, mit einem Stabwechsel an der Parteispitze auch die Regierungsmacht für die CDU zu erhalten, hatte Kohl verpasst. Ein Jahr nach seiner Abwahl stürzte die CDU in den Strudel der Spendenkrise.
    "Ja, aber sie hat es verstanden, das Amt des Generalsekretärs in dieser Situation – und sie ist mit heute nicht vergleichbar, die ist mit heute absolut nicht vergleichbar – in dieser Situation führungsstark und selbstbewusst als Generalsekretärin dazu zu führen, dass die CDU ihre schwerste Krise der Nachkriegszeit erfolgreich überwunden hat. Und ein paar Jahre später war sie Bundeskanzlerin. Kein Mensch hätte das für möglich gehalten! Da kannte sie ja gar niemand!"
    Veranstaltungen für die Parteibasis wurden zur Merkel-Roadshow
    Sagt Bernhard Vogel. Nach dem Rücktritt Wolfgang Schäubles vom Parteivorsitz nutzte Merkel die Organisationsbefugnisse des Generalsekretärs und machte sich selbst zur Herrin des Verfahrens:
    "Das gesamte Verfahren ist ja nicht darauf angelegt, bis zum 20. März, das sich Kandidaten erklären und darüber eine Mitglieder– oder Basisbefragung stattfindet, sondern dass die Partei in all ihren Gliederungen darüber diskutieren soll, wie die Mannschaft und wie die Führungspersönlichkeiten der CDU in Zukunft aussehen."
    Merkel verbaute den bestens untereinander vernetzten und ambitionierten Konkurrenten der alten, westlichen Männerelite zunächst die Möglichkeit, den eigenen Hut vorzeitig in den Ring zu werfen und vollendete Tatsachen zu schaffen. Dann machte sie eine Reihe von Veranstaltungen für die Parteibasis zur Merkel-Roadshow.
    "Das war die Bühne. Diese Regionalkonferenzen waren die Grundlage ihres späteren Erfolges bei der Wahl als Parteivorsitzende. Sie hat diese Einrichtung ja auch beibehalten, solche Generalkonferenzen abzuhalten. Helmut Kohl hätte sich mit den Landesvorstand der Partei getroffen. Sie hat diesen Weg gewählt. Das Interessante ist: Beide waren erfolgreich, obwohl sie sehr unterschiedlich waren."
    Konkurrenten mit nüchternem Kalkül ausgeschaltet
    Innerhalb von Tagen wurde Merkel damals zur unangefochtenen Königin der Herzen in der CDU. Letzte, mögliche Konkurrenten wurden mit nüchternem Kalkül ausgeschaltet. Bernhard Vogel hat das unmittelbar erlebt:
    "Sie hat beispielsweise in diesen Tagen mich aufgesucht und mir gesagt, sie wolle Parteivorsitzende werden und die da und dort aufkommenden Gerüchte, ich sollte das für eine Übergangszeit übernehmen, zu unterlassen. Und das hab ich auch getan."
    Fast auf den Tag genau 18 Jahre sind seitdem vergangen, als die CDU-Basis vor einer Woche in einer zum Festsaal umfunktionierten Tennishalle im mecklenburgischen Demmin vergnügt zum Mecklenburger Heimatlied schunkelt. Wie in fast jedem ihrer Jahre als Generalsekretärin, Vorsitzenden und Kanzlerin ist auch Angela Merkel zum politischen Aschermittwoch ihres Heimatverbandes gekommen. Zum ersten Mal aber redet sie in diesem Jahr als Regierungschefin ohne parlamentarisch legitimierte Regierung.
    "Jeder leistet etwas für dieses Land und deshalb, meine Damen und Herren, liebe Freunde: Es geht jetzt im Augenblick nicht darum, permanent zu fragen: Was macht der andere falsch? Sondern es geht für jeden und in jeder Partei darum, zu fragen was kann ich für dieses Land tun? Denn das ist die Aufgabe von Politik: zu dienen und nicht um rumzumosern!"
    Während die Redner auf anderen Aschermittwochsveranstaltungen vollmundig auf die politischen Gegner eindreschen, schlägt Merkel in Demmin einen anderen Ton an.
    Merkel-Anhängern ist nicht nach Revolte zumute
    "Es ist nicht die Zeit für 'Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand', sondern es ist die Zeit für Vernunft und Verstand. Und es geht nicht um Verleumdungen und Unterstellungen, sondern es geht darum, dass wir wieder lernen, uns gegenseitig zu achten und zuhören und auch das Gute beim anderen zu sehen und nicht nur das schlechte."
    "Lasch" sei Merkel in Demmin gewesen, wird am nächsten Tag die "Bild"-Zeitung titeln. Das Blatt hatte in den vorangegangenen Tagen mit der Meldung, Merkel habe bei den Koalitionsverhandlungen die Regierung "an die SPD verschenkt", die Stimmung in der Union angeheizt. Von einem "Aufstand gegen Merkel" kündeten die Schlagzeilen wenig später. Die öffentliche Nachfolgediskussion war entbrannt.
    An der Basis in Demmin dagegen ist den Anhängern nach dem Merkel-Auftritt nicht nach Revolte zumute.
    "Also diese Rede, dieser Auftritt heute war kein Zeichen von Erschöpfung für mich", findet CDU-Mitglied Silvia Keitsch aus Altentreptow. Rosemarie Klöpfer aus Rostock will sich auch den Rufen nach einer Verjüngung und neuen Gesichtern an der Spitze der Partei nur zögernd anschließen:
    "Ja, sicher, Jugend voran ist immer gut. Aber ich denke, die alten Köpfe haben wir die Erfahrung, die braucht die CDU und auch die Stärke. Die hat die Jugend bestimmt noch nicht. Aber das kann ja noch werden."
    An einem Biertisch in der Tennishalle von Demmin sitzt Manfred Semrau, Bürgermeister der Gemeinde Bütow an der Mecklenburgischen Seenplatte. Wenn die Mitglieder seines CDU Ortvereins in diesen Tagen zusammensäßen, gehe es ihnen vor allem um eines, sagt Semrau:
    "Es wird Zeit, dass die Regierung ans Arbeiten kommt. Dass die Regierung gebildet wird und dass Kabinett gebildet wird."
    25-jähriger CDU-Abgeordneter glänzt im Internet
    Und was hält er von den drängenden Nachwuchskräften in der CDU, die sich in Berlin und den Landeshauptstädten um höhere Weihen in Partei und Regierung rangeln?
    "Da kann ich jetzt momentan … fällt mir so spontan gar nichts ein, muss ich sagen. So auffällig waren sie bis jetzt noch nicht. In den letzten 23 Tagen, wo sie so ein bisschen auffällig geworden sind. Sonst kann ich dazu eigentlich wenig sagen."
    Ein paar Meter weiter steht dann aber doch eines der jungen, neuen Gesichter, die auch in Berlin zuletzt auffällig geworden sind. Philipp Amthor wirkt auf den ersten Blick wie ein frisch gewählter Schülersprecher aus den Reihen der Schülerunion. Schwarze Hornbrille im jungenhaften Gesicht, streng gescheiteltes Haar, die Krawatte akkurat gebunden. Der 25-Jährige wurde im September als jüngster Direktkandidat für die CDU in den Bundestag gewählt. Letzte Woche erst wurde eine Rede, in der Amthor einen AfD-Antrag gegen die Vollverschleierung zerpflückte, als hielte er seit Jahrzehnten Reden im Bundestag, zum Klick-Hit im Internet. Beim Aschermittwoch in Demmin macht Amthor klar, dass er auch mitreden will, wenn es jetzt um die Neuaufstellungen in Berlin geht:
    "Sie wird jetzt die Ministerliste vorlegen und ich hoffe persönlich sehr, dass sich dort auch konservative und jüngere Gesichter wieder finden."
    Und Amthor hat wie viele der jungen CDU-Mitglieder, die sich selbst als konservativ einordnen, auch eine klare Vorstellung davon, wer da nun von der Kanzlerin in neue Spitzenämter befördert werden soll.
    "Etwa Jens Spahn ist natürlich jemand, der auf jeden Fall geeignet ist, eine Führungsaufgabe im Kabinett, in der Fraktion oder in der Partei zu übernehmen."
    Spahn als Hoffnungsträger der Konservativen
    Jens Spahn, 37 Jahre alt, bisher Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, seit drei Jahren Mitglied im CDU-Präsidium und künftiger Bundesgesundheitsminister tritt am gleichen Tag 800 Kilometer südlich beim Aschermittwoch der baden-württembergischen CDU in Fellbach auf.
    "Dieses Land ist so wenig links wie lange nicht. Dieses Bedürfnis nach Heimat, nach Geborgenheit. Dann ist das Bedürfnis größer, dass man nicht jeden Tag im Alltag alles neu verhandeln muss. Dass es so ein paar Dinge gibt, die einfach gelten: Tradition, Gebräuche, Werte."
    Spahn ist in den letzten Jahren zu einem Hoffnungsträger all derer in der CDU geworden, die sich für eine Zeit nach Merkel eine Rückbesinnung ihrer Partei auf frühere Tugenden und programmatische Kernbestände wünschen.
    "Dieses Multi-Kulti, "alles-ist-doch-irgendwie-egal" der Achtundsechziger, das ist durch. Das haben die Menschen satt! Und das ist doch unsere große Chance als die Wertepartei, die Partei, die für Heimat und Geborgenheit steht und gleichzeitig die Zukunft gestaltet an vielen, vielen Stellen!"
    Jens Spahn taugt dabei selbst allerdings kaum zum Wiedergänger eines vergangenen, patriarchalischen Konservatismus in der CDU. Der ambitionierte Nachwuchsstar schafft es, in einem Atemzug gegen linken Genderwahn zu wettern und für die Öffnung der Ehe für Homosexuelle zu werben. In Interviews mokiert sich der Westfale über Englisch sprechende Kellner in Berliner Hipster-Kaffees. In der Freizeit pflegt er selbst einen urbanen Turnschuh-Lebensstil in der Hauptstadt.
    Blick von den USA auf die CDU
    Wofür, für welchen künftigen Kurs der CDU also stehen die Jungen in der Partei, die sich so gerne auf alte Werte berufen?
    "Es ist schon interessant, dass viele Akteure in der CDU heute ganz offen und offensiv von Konservatismus reden."
    Wundert sich Jan Werner Müller. Der Politikwissenschaftler verfolgt die Entwicklungen in Deutschland aus akademischer und geografischer Distanz an der amerikanischen Princeton University. Sein Buch über den Populismus wurde vor zwei Jahren zu einem breit rezipierten Standardwerk. Seit Langem beschäftigt sich Müller mit der Entwicklung der Christdemokratie in der Europa.
    "Über lange Jahrzehnte hinweg war der Begriff 'konservativ' in der CDU eigentlich nicht wirklich willkommen. Ursprünglich, nach dem Krieg, wollte man sich ja gerade absetzen von konservativen, vor allem auch dezidiert nationalen Kräften in der deutschen Geschichte. Man gerade gesagt, 'wir sind nicht wie die konservativen Parteien der Weimarer Republik', ergo diejenigen, die zum Teil auch am Ende bereit waren, Kompromisse mit Hitler zu machen, um an die Macht zu kommen. Man hat sich zum Teil durchaus als eine Partei verstanden, die bis zu einem gewissen Grad die Gesellschaft progressiv auch verändern wollte."
    Programme an globale Herausforderung anpassen
    In Teilen der CDU, mehr noch in der bayerischen Schwesterpartei, ist die Forderung nach einer konservativen Erneuerung oder – wie der neue CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, Alexander Dobrindt, schrieb – "Konservativen Revolution" - die gängige Antwort auf die Frage, wie der Abwanderung von Wählern zur AfD zu begegnen sei. Der Populismusforscher Müller indes warnt vor einer reflexhaften Kurskorrektur:
    "Da, wo man sofort gesagt hat, nun das ist nun einmal so, jetzt haben wir halt plötzlich nun einmal zehn Prozent oder vielleicht sogar 20 Prozent vom Wählern die wirklich stramm Rechts sind und wir müssen uns dem sofort anpassen, wir müssen denen quasi hinterher laufen, wir müssen auch die Botschaften der Rechtspopulisten de facto immer wieder verstärken und legitimieren, indem wir halt auch so reden nur vielleicht ein bisschen sanfter, da ist das dann auch zu so einer Art self-fullfilling prophecy geworden, dass diese Wähler sich selber auch so wahrgenommen haben. Aber mein Gedanke wäre, dass in Deutschland dieser Punkt noch nicht erreicht ist. Deswegen halte ich diese Fragestellung – entweder jetzt richtig scharf nach rechts, oder das Ganze irgendwie quasi ignorieren – das sind nicht die einzigen Optionen."
    Müller meint, die christdemokratischen Parteien müssten heute ihre spezifische Programmatik heute in einer viel grundsätzlicheren Weise aktualisieren und an die globalen die Herausforderungen dieser Zeit anpassen.
    Die Union hat drei Wurzeln
    Bernhard Vogel sitzt derweil in einem Salon, den er als ehemaliger Vorsitzender im alten Hauptsitz der Konrad Adenauer Stiftung in St. Augustin bei Bonn nutzt. Das Gebäude atmet den behaglichen Charme der alten Bonner Republik. Viel beige, braun und blassgelb auf Teppichen, Gardinen und Wandverkleidungen. Vogel blickt mit der Gelassenheit des Altvorderen auf den Zustand seiner Partei.
    "Also, weil ich meiner Partei ja schon viele Jahrzehnte angehöre, habe ich in Erinnerung, dass es immer wieder Zeiten gab, wo es hieß, die CDU sei nicht liberal genug, die CDU sei nicht christlich-demokratisch genug, die CDU sei nicht konservativ genug."
    Bernhard Vogel erinnert sich an die programmatischen Ursprünge der CDU, die sich in den Nachkriegsjahren bewusst nicht als Partei, sondern Union benannte. Immer wieder ging es der Partei seitdem darum, ganz unterschiedliche soziale Milieus und politische Strömungen unter einem Dach zu vereinen - Katholiken und Protestanten, Arbeiter und Unternehmer, Herz-Jesu-Marxisten und ordoliberale Wirtschaftstheoretiker.
    "Die Union hat drei Wurzeln. Das ist die Grundlage ihrer Gründung nach 1945 gewesen: die christlich-soziale, die freiheitlich-liberale und die wertkonservative. Und wenn sie nicht auf alle drei Wurzeln achtet, droht sie zu verdorren. Und deswegen bin ich dagegen, dass wir im Frühjahr ein bisschen liberaler und im Herbst ein bisschen konservativer sind. Sondern wir müssen darauf achten, dass diese drei Wurzeln ausgewogen zueinander die Grundlage für die Zukunft dieser Partei auch heute sind."
    Morgen trifft sich die CDU zum Parteitag in Berlin. Der Koalitionsvertrag soll abgesegnet werden. Annegret Kramp-Karrenbauer – daran zweifelt niemand – wird mit großer Mehrheit zur Generalsekretärin gewählt werden. Bei der Wahl zum Parteipräsidium hatte sie im Dezember eines der ersten Ergebnisse erhalten. Sie wird dann als erste Amtshandlung den Auftakt zu einer Programmdebatte in der CDU geben. Ganz ähnlich wie Angela Merkel, deren Wahl zur ersten CDU-Generalsekretärin sich in diesem Jahr zum 20. Mal jähren wird.