Freitag, 19. April 2024

Archiv

Vor dem Referendum in Großbritannien
"Cameron hat mit Anti-EU-Stimmung Karriere gemacht"

Der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber, sieht den britischen Premier David Cameron in der Mitverantworung für das Risiko eines Brexits. Cameron habe in seiner ganzen politischen Karriere von der Anti-EU-Stimmung profitiert, sagte der CSU-Politiker im DLF. Erst jetzt werbe er für den Verbleib in der EU.

Manfred Weber im Gespräch mit Thielko Grieß | 23.06.2016
    Der Fraktionsvorsitzende der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (CSU)
    Der Fraktionsvorsitzende der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (CSU) (picture alliance / dpa / Mathieu Cugnot)
    Die Stimmung gegen Brüssel habe Cameron jahrelang selbst geschürt, findet Manfred Weber (CSU). Erst seit drei Monaten trete er nun als Befürworter auf, was sehr zu begrüßen sei.
    Egal, wie das heutige Referendum ausgehe, die EU könne gelassen reagieren, meint Weber. Denn in allen anderen Mitgliedsstaaten werde die Gemeinschaft in Umfragen immer noch sehr positiv bewertet.
    Der EVP-Fraktionschef mahnt die EU insgesamt dazu, sich angesichts der Kritik in der Bevölkerung weniger im Klein-Klein zu verzetteln. Detailregelungen beschwerten die Menschen in ihrem Alltag nur. Stattdessen müsse man sich, wie es auch schon EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gefordert habe, auf die großen Aufgaben konzentrieren. Hier nannte Weber "die Flüchtlingsfrage, den Umgang mit Putin, die Frage der Digitalisierung". Besonders beim gemeinsamen Auftreten gegen den russischen Präsidenten seien sehr viele Menschen überzeugt, dass man ein starkes Europa brauche.

    Das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: Das Referendum im Vereinigten Königreich beginnt in einer guten dreiviertel Stunde, wenn die Wahllokale öffnen. Die Aufmerksamkeit ist groß, europaweit, weltweit.
    Jetzt ist am Telefon Manfred Weber, Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament. In Deutschland nennen wir das CDU und CSU. Guten Morgen, Herr Weber.
    Manfred Weber: Guten Morgen.
    Grieß: Kann die Europäische Union auch bei einem Verbleib der Briten in der Europäischen Union so weitermachen wie bisher?
    Weber: Zunächst muss man sehen, dass Großbritannien über die letzten Jahrzehnte immer eine Sonderrolle gespielt hat. Ich erinnere nur an den Britenrabatt. Und die Debatte in Großbritannien war immer eine ganz spezifische. Deswegen muss man die Briten jetzt auch einfach heute entscheiden lassen. Ich sehe, dass wir in den Umfragewerten europaweit, in allen restlichen Staaten der Europäischen Union eine grundsätzlich positive Einstellung zum Grundprinzip der Partnerschaft haben, und deswegen sollten wir, egal was jetzt heute passiert, auch sehr gelassen reagieren. Wir Deutsche, wir Franzosen, wir Polen sind von dem gemeinsamen Weg überzeugt. Wenn die Briten jetzt nicht mehr davon überzeugt sind, dann ist es deren Entscheidung.
    Grieß: Wir haben gerade Wolfgang Schäuble gehört. In einem anderen Zitat vor wenigen Tagen hat er gesagt, wir können in Europa nicht so weitermachen. In fast allen Ländern der Europäischen Union wachse die Zahl der Menschen, die so mit der Europäischen Union nicht einverstanden sind.
    Weber: Ich teile das, weil wir nach so einer knappen Abstimmung, die wir heute wahrscheinlich zu erwarten haben, natürlich reflektieren müssen, was passiert, wenn Menschen das nicht ernst nehmen und wahrnehmen, und dann müssen wir zunächst in Brüssel reagieren.
    "EU muss sich mit dem Alltag der Menschen befassen"
    Grieß: Aber wie?
    Weber: Beispielsweise müssen wir klar machen, dass wir uns auf die großen Aufgaben konzentrieren. Juncker hat in den letzten zwei Jahren angefangen mit big and big things, small and small things. Das heißt, sich aufs Große konzentrieren, auf die Flüchtlingsfrage, auf Putin, auf die Frage der Digitalisierung, und nicht auf die Detailregelungen, die die Menschen im Alltag nur beschweren. Da haben wir schon viel erreicht und den Weg müssen wir weitergehen.
    Und das Zweite, was ich aber auch ausdrücklich sage, ist: Schauen Sie sich mal Großbritannien an. Da ist David Cameron jetzt einer derjenigen, die an vorderster Front für das Bremain kämpfen. Ich freue mich darüber. Aber David Cameron ist jemand, der in seiner ganzen politischen Karriere profitiert hat vom Anti-Europa-Stimmung machen. Auch er war einer derjenigen, der über Jahre hinweg gegen Brüssel Stimmung gemacht hat und die britischen Interessen sozusagen als das Höchste dargestellt hat, und mit dieser Art und Weise hat er Karriere gemacht und drei Monate vor der Abstimmung kommt er jetzt …
    Grieß: Das funktioniert ja sehr gut!
    Weber: Ja, aber drei Monate vor der Abstimmung kommt er jetzt und sagt den Leuten, es ist notwendig, dabei zu bleiben. Ich will Ihnen sagen, dass alle Politiker, nicht nur wir in Europa, sondern alle Politiker in der Verantwortung sind, den Menschen im Alltag nahezubringen, warum wir das Ganze machen, warum es auch aus Berliner Sicht richtig ist, Europa zu machen.
    Grieß: Die Berliner Sicht. Herr Weber, Sie sind Mitglied der CSU. Mit Kritik an der Europäischen Union kann man in der CSU aber auch ganz gut was werden.
    Weber: Ich bin stellvertretender Parteivorsitzender, habe das beste Parteitagsergebnis bekommen in meiner Partei, in der Christlich-Sozialen Union, und ich gehöre sicher nicht dem Lager an, das Sie beschreiben. Ich möchte auch nicht bestreiten, dass wir die Debatte brauchen.
    "Europa muss den Menschen Vorteile liefern"
    Grieß: Ich wollte ja nur sagen, dass es das auch gibt.
    Weber: Ja natürlich! Und ich kritisiere das auch. Ich kritisiere das auch und wir müssen alle miteinander uns darum bemühen, dass wir die Sachdebatte um Europa, das heißt, den Weg, den wir in Europa gehen, endlich trennen von der Grundsatzdebatte in Europa. Bei jeder Kritik an Europa wird gleich gesagt, wir stellen Europa insgesamt infrage, und das müssen wir beenden. Es muss die Sachdebatte möglich sein, ohne gleich das Prinzip zu hinterfragen.
    Grieß: Ich würde trotzdem gerne noch eine Grundsatzfrage stellen zwischen diesen beiden Schulen. Auf der einen Seite mehr Vertiefung, mehr Zusammenarbeit und auf der anderen Seite mehr Nationalstaatlichkeit, mehr Eigenständigkeit der Nationalstaaten. Wo stehen Sie?
    Weber: Ich stehe für die Vernunft. Ich will nicht das Prinzip des mehr Europas, weil das mehr Europa per se nichts aussagt, sondern wir müssen ganz pragmatisch herangehen. Beispielsweise haben wir im Europäischen Parlament vor einem Jahr entschieden, dass die Frage, ob Gentechnik angebaut wird auf deutschen Böden, dass das wieder in den Regionen entschieden wird, im Deutschen Bundestag oder vielleicht sogar im Landtag. Das heißt, wir geben Themen von Brüssel zurück an die Regionen. Andererseits gibt es Fragen, denken Sie an den Terror jetzt in Brüssel und Paris, da erwarten die Bürger in ganz Europa, dass die Behörden eng kooperieren und die Gefährderdateien austauschen, damit wir Sicherheit auf diesem Kontinent organisieren. Da brauchen wir mehr Europa. Deswegen würde ich ganz pragmatisch herangehen. Europa muss den Menschen Vorteile liefern und dann können wir auch überzeugen.
    Grieß: Dieser Pragmatismus, den Sie schildern, Herr Weber, der kommt bei vielen Menschen aber nicht mehr an. Es ist schon so, das höre ich bei Ihnen heraus, dass die Europäische Union, egal wie das Vereinigte Königreich entscheidet, weiterwurstelt wie bisher?
    Weber: Ich nehme das so nicht wahr. Ich nehme das wahr, dass das ankommt. Wenn wir mit den Leuten sprechen, dann wird das auch verstanden, dass wir in einigen Bereichen ein starkes Europa brauchen. Im Auftreten gegen Putin, in der Außenpolitik sagt jeder, mit dem ich rede, da brauchen wir endlich eine starke Stimme der Europäischen Union, eine gemeinsame Stimme. Und es gibt Bereiche, wo die Leute sich ärgern über Europa, weil Detailvorschriften kommen, und genau das müssen wir jetzt anpacken. Es geht doch um die Grundsatzfrage, können wir die Aufgaben unserer Zeit, Flüchtlinge, Terror, können wir die besser gemeinsam bekämpfen oder alleine. Und da bin ich überzeugt, dass die Menschen sagen, gemeinsam macht es Sinn, aber es muss auch funktionieren, und deswegen muss Europa besser werden, es muss liefern.
    "Es geht auch um das Versagen auf nationaler Ebene"
    Grieß: Und doch wachsen fast überall in Europa, auch in Deutschland die Zustimmungswerte für jene, die sich nationale Themen und nationale Antworten auf die Fahnen schreiben.
    Weber: Ja, wobei ich schon auch darauf hinweisen darf, dass dieses Phänomen, dass Populisten und auch teilweise Extremisten einen Zulauf haben, nicht nur ein europäisches Thema ist. Wilders ist auch bei nationalen Umfragen fürs nationale Parlament derzeit in den Niederlanden Nummer eins. Le Pen ist auch bei nationalen Umfragen ganz, ganz stark. Das heißt, es geht nicht nur um Europa oder Europawahlen; es geht auch um das Versagen, was wir auch auf nationaler Ebene oft erleben. Die Menschen haben Sorge vor der Zukunft, wenn man sich Globalisierung anschaut, wenn man sich die Kriege um uns herum anschaut, und darauf muss Politik verlässliche Antwort geben. Diese Sicherheit auszustrahlen, das ist das, was wir brauchen, und wir brauchen auch Führung in der Politik. Wir brauchen Staatsmänner und Staatsfrauen, die den Menschen die Globalisierung erklären und sagen, wenn wir nicht zusammenhalten, dann hat dieser Kontinent keine gute Zukunft. Wir werden in einer globalisierten Welt nicht überleben.
    Grieß: Der belgische Premier Michel war gestern zu vernehmen mit seiner Idee oder seinem Vorschlag, die Europäische Union brauche ein Konklave, an deren Ende nicht ein neuer Papst stehe, sondern eine neue Idee für Europa. Ist das eine gute Idee?
    Weber: Ob wir dafür ein Konklave brauchen, weiß ich nicht. Ich glaube aber, dass wir eine Debatte darüber brauchen, warum heute Europa notwendig ist. Es war ja über Jahrzehnte hinweg ein Wort notwendig, um Europa zu begründen; das war das Wort Friede. Das war über Jahrzehnte hinweg das prägende Element. Und wenn Sie mich fragen: Mein prägendes Element heute ist die Selbstbehauptung. Dieser Kontinent, wir Europäer, the european way of life, wir werden ihn nur verteidigen, wenn wir zusammenstehen. Es glaubt doch niemand, dass die 60 Millionen Briten am Ende der Tage global in der Welt, in der wir heute leben, mit China und mit den Weltmärkten, die kommen, wirklich durchsetzungsfähig sein werden. Deswegen: Entweder wir schaffen es gemeinsam, oder es wird sich für uns niemand interessieren.
    "Wir brauchen eine breite Debatte in der Gesellschaft"
    Grieß: Aber es könnte doch tatsächlich eine gute Idee sein, sich einfach mal hinter verschlossenen Türen zu versammeln, nicht nur bei den regelmäßigen Gipfeln, sondern frei zu überlegen, nachzudenken, was machen wir, wie machen wir es weiter? Oder will mit Angela Merkel niemand länger als eine Nacht hinter einer Tür bleiben?
    Weber: Nee! Das ist ja nicht sachlich. Entschuldigung!
    Grieß: Nein! Ich meine jetzt die Gipfel.
    Weber: Wenn wir beisammen sind, die Staats- und Regierungschefs, würde ich mir eher wünschen, dass wir eine breite Debatte führen, dass wir die Menschen beteiligen und nicht wieder die Türen hier in Brüssel schließen und hinter verschlossenen Türen über solche Fragen reden. Wir brauchen eine breite Debatte in der Gesellschaft darüber, warum wir dieses Projekt brauchen. Die Menschen müssen es mittragen. Und was ich mir von Staats- und Regierungschefs eher wünschen würde ist, dass sie das, was sie in Brüssel beschließen, was ihre Minister in Brüssel beschließen - es wird ja in Brüssel nichts beschlossen, ohne dass nationale, auch deutsche Minister die Hand dafür heben -, dass man das auch zuhause erklärt, warum man es macht, und nicht dann heimkommt und zu kritisieren beginnt. Wir brauchen ein lebendiges Europa, das politisch getragen wird und wo sich Minister, Politiker und wir Abgeordnete auch dafür hinstellen, was wir entscheiden. Die Menschen mit zu Beteiligten machen, das ist der Weg.
    Grieß: Es gibt ja so ganz einfache Sachfragen, die Sie auch angesprochen haben, Herr Weber: Defizite, Haushaltsdefizite zum Beispiel. In Frankreich ist es seit fast schon eh und je größer und tiefer als erlaubt. Der EU-Kommissionschef, Jean-Claude Juncker, will nicht konsequent einschreiten, weil es sich eben um Frankreich handele. Das ist inkonsequent. Ist das ein Schaden für die EU?
    Weber: Das Einhalten von Regeln ist zentral in der Europäischen Union und ich glaube, dass die Verantwortlichen hier in Brüssel, gerade die Kommission alles tun muss, um das im Alltag umzusetzen. Allerdings definieren wir uns hier als politische Union. Wir sind keine Behörde in Europa. Wir machen Politik hier auf europäischer Ebene und da ist es leider so, dass ich für das Einhalten von Regeln bin, aber leider Gottes Sozialdemokraten und Sozialisten sehr stark dafür sind, die Flexibilität des heutigen Stabilitätspaktes massiv anzuwenden.
    Grieß: Aber nun ist Jean-Claude Juncker weder ein Sozialdemokrat, noch ein Sozialist.
    Weber: Er ist Regierungschef einer Großen Koalition in Europa. Auch Martin Schulz, auch Gabriel, auch die Sozialdemokraten sitzen am Tisch, und die plädieren mit Renzi und Hollande, die Sozialdemokraten, massiv für die flexible Anwendung des Paktes, und da müssen wir einen Mittelweg finden. Wenn Sie mich fragen als Vertreter der Christdemokraten in Europa? Ich will genauso wie Rajoy, genauso wie Kenny in Irland - dort sind unsere Regierungschefs in Verantwortung -, wir wollen, dass wir endlich Schluss machen mit den Schulden und dass wir Reformen umsetzen auf diesem Kontinent. Das ist unser Ansatz.
    Grieß: Herr Weber, Sie bleiben heute Nacht wach?
    Weber: Ich gehe früh ins Bett und werde aber auch sehr früh aufstehen, weil gegen drei Uhr die ersten verlässlichen Zahlen dann nachts kommen.
    Grieß: Guten kurzen Schlaf heute Abend und dann ein spannendes Aufstehen. - Danke Schön!
    Weber: Danke auch.
    Grieß: Manfred Weber von der CSU, Fraktionschef der EVP, der Europiäschen Volkspartei im Europaparlament.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.