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Vor der Flut
Wie sich Gemeinden gegen Überschwemmungen schützen

Hildesheim, Harz, Bayern: Allein 2017 haben durch Starkregen verursachte Schäden enorme Kosten verursacht und persönliches Leid verursacht. Städte wie Leipzig setzen deshalb gezielt auf vorbeugende Maßnahmen, um Überschwemmungen vorzubeugen. Aber Prävention kann auf Kosten der Anwohner gehen.

Von Manuel Waltz | 26.10.2017
    Einsatzkräfte der Feuerwehr pumpen am 27.07.2017 in Hildesheim (Niedersachsen) Wasser vom Tennisheim in den Fluss Innerste. Dauerregen hat im südlichen Niedersachsen in einigen Orten zu Überschwemmungen geführt.
    Starkregen setzt immer häufiger Gemeinden unter Wasser, wie beim Hochwasser in Hildesheim 2017 (picture alliance / dpa / Swen Pförtner)
    "Zunächst erst einmal zeichnet sie sich durch Auenleben aus. Also der Boden der Aue kann ganz viel Wasser aufnehmen."
    Anja Werner läuft durch den Auwald in Leipzig. Sie arbeitet für den Ökolöwen, einen Naturschutzbund, der sich für den Erhalt dieses Auwaldes einsetzt, einen der größten innerstädtischen in Europa. Vor ein paar Tagen hat es stark geregnet, noch immer steht das Wasser auf den matschigen Wegen. Wie ein Schwamm saugt der Boden die Feuchtigkeit auf und speichert sie. Das macht ihn zu einem besonderen Ökosystem mit einer extrem hohen Artenvielfalt.
    "Und das ist sozusagen das - ja der unique selling point sozusagen für so eine Aue. Also die kann halt echt viel. Und die auentypischen Bäume, Baumarten, da gibt es Weichholzauen in der Nähe halt von Wasser, die ganz oft überschwemmt ist und lange. Und dann noch die Hartholzaue, die nur so 20 bis 50 Tage in Folge überschwemmt ist."
    Panorama Leipzigs von der Ausssichtsplattform City-Hochhaus in Leipzig, Sachsen.
    Leipzig entsiegelt viele Betonflächen, um den Hochwasserschutz voranzutreiben. (imago / Schöning)
    Nur: Der Leipziger Auwald wird gar nicht mehr überflutet und kann so seine ursprüngliche Aufgabe nicht mehr erfüllen: Wasser aufnehmen. Die Weiße Elster, die hinter Anja Werner fließt, ist durch einen Damm vom Wald getrennt.
    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden überall in Deutschland Deiche gebaut, Flüsse begradigt, kanalisiert und umgeleitet, so auch hier an der Weißen Elster. Das Wasser sollte möglichst schnell weggeleitet werden, so lautete der Grundsatz. Doch Anfang der 90er-Jahre begann ein Umdenken. Man musste erkennen, dass sich die Siedlungsflächen so stark in die Auen ausgeweitet hatten, dass die Flüsse zu wenig Raum hatten. Bei Hochwasser fehlten Flächen, um Wasser aufzunehmen. Überschwemmungen mit hohen Schäden waren die Folge. Ein Konzept, das aus dieser Erkenntnis entwickelt wurde, ist die Schwammstadt.
    "Die Idee ist einfach, wie ein Schwamm, dass ich praktisch einen Schwamm mit Wasser volllaufen lasse und darüber den Moment heraus zögere, wo das Wasser praktisch über den Schwamm heraustritt. Also dass ich die Absorptionsfähigkeit, die Aufnahmefähigkeit einer Stadt, wenn es stark regnet, erhöhe", erklärt Christian Kuhlicke vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig.
    Wie der Auwald früher soll die Stadt bei starkem Regen erst einmal das Wasser aufnehmen, speichern und dann langsam abgeben, so die Idee.
    Versiegelung der Städte
    Berlin
    Betonwüsten wie der Berliner Alexanderplatz verhindern, dass Regenwasser ablaufen kann. (imago/Jochen Tack)
    Die Realität sieht anders aus: Städte sind hochgradig versiegelt. Das heißt, auf den Straßen, auf Dächern, auf den Plätzen kann das Wasser nicht mehr versickern, sondern es läuft an der Oberfläche ab – in die Kanalisation. Dort wird es gesammelt, es fließt in die Klärwerke und dann in die Flüsse. All das möglichst schnell. Doch die Kanalisation ist nur auf eine gewisse Menge Niederschlag ausgelegt.
    Bei einem Starkregen, bei dem sehr hohe Wassermengen in kurzer Zeit nieder gehen, kann das die Kapazität der Kanalisation überschreiten, eine Situation die Axel Bobbe von der Sächsischen Talsperrenverwaltung nur zu gut kennt.
    "Und dann haben Sie zwei Effekte. Auf dem einen Gully, da fließt nichts mehr rein, weil die Kanalisation voll ist. Und unten im Tal, sogar noch negativer, weil die Kanalisation den Berg runter fließt, dann kommt unten aus den Gullydeckeln kommen Geysire hoch, weil die unter Druck stehen, die Leitungen. Und dann haben die, die unten wohnen noch viel mehr davon, weil die dann das Toilettenpapier und das ...Ne? ... von den Oberliegern bekommen. Und das sind unschöne Geschichten aber so richtig ändern kann man nichts."
    Diese Starkregen treten in den vergangenen Jahren häufiger auf. Auf einem sehr begrenzten Gebiet - manchmal ist nur ein einziges Stadtviertel betroffen - gehen enorme Wassermassen in kürzester Zeit nieder. Daher versucht man nun, wie ein Schwamm, den ersten großen Guss zurückzuhalten, dadurch die Kanalisation zu entlasten und somit Schäden zu vermeiden.
    In Dresden wurden Teile dieses Konzeptes bereits umgesetzt. Die Stadt hatte in den vergangenen 20 Jahren höhere Schäden durch Wasser zu beklagen als jede andere in Deutschland. Beim Wiederaufbau sei sehr darauf geachtet worden, solche Schäden künftig zu vermeiden.
    "Da haben wir ein Konzept entwickelt, das heißt kompakte Stadt", sagt Christian Korndörfer, der in der Dresdener Stadtverwaltung für den Hochwasserschutz zuständig ist.
    "Wir wollen also die Siedlungskerne, die wir haben, eher nachverdichten, aber einbetten in ein Netz von Freiräumen in das sogenannte ökologische Netz, das viele Funktionen hat. Unter anderem Wasser zu versickern aber auch, weil - das Gerüst bilden unsere Gewässer - auch dem Wasser Raum zu geben bei Überflutungen. Und wir lenken sogar jetzt in bestimmten Kanalabschnitten, wo wir wissen, da kann es Überstau geben, lenken in diese Grünräume dann den Überstau aus der Kanalisation."
    Dresden hat dazu überbaute Bäche und Flussabschnitte wieder freigelegt, Dämme zurückversetzt und Auen wieder aktiviert. In der Stadt wurden neue Grünflächen geschaffen, Brachen aufgekauft und entsiegelt.
    Baurecht mit Blick auf den Hochwasserschutz verändern
    Eine überflutete Straße am 08.06.2013 in Magdeburg (Sachsen-Anhalt). 
    Bis in die 90er-Jahre hinein wurde Hochwasserschutz nach dem Motto betrieben: Wenn der Damm nicht reicht, bauen wir eben einen höheren. (picture alliance / dpa / Foto: Andreas Lander)
    Zudem will man unter Parkanlagen Rückhaltebecken anlegen, in die man im Ernstfall Wasser leiten kann. Außerdem hat man das Baurecht noch stärker auf die Bewältigung von extremen Starkregen ausgerichtet. Wer neu bauen will und Boden versiegelt, müsse beispielsweise in Dresden dafür sorgen, dass dadurch nicht mehr Wasser in die Kanalisation fließt als vorher, so Korndörfer. "Und das ziehen wir konsequent durch und haben dadurch die Niederschlagsspitzen deutlich gesenkt in den Gewässern."
    Die Stadtverwaltung erntete nach eigener Darstellung anfangs einen Sturm der Entrüstung. Vor allem Investoren meinten, die Vorschriften würden Neubau verhindern, weil dieser Hochwasserschutz nicht zu bezahlen sei. Mittlerweile aber habe sich das Ganze etabliert und werde problemlos umgesetzt, so Christian Korndörfer. Vor allem weil es auch relativ einfache Möglichkeiten dazu gebe.
    "Das macht man dadurch, dass man entweder Rückhaltebecken baut, unterirdisch häufig. Die sieht man gar nicht. Wo das Wasser zwischendurch gespeichert wird und dann langsam wieder abgegeben wird. Oder aber Mulden anlegt, in die das Wasser hinein fließt und dort versickert. Unter den Mulden sind häufig Steinpackungen, die sehr porös sind, wo das Wasser zwischengespeichert wird und dort versickert. Die nennt man Rigolen. Und diese Mulden-Rigolen-Systeme, die werden häufig bei solchen Neubauten eingeführt.
    Da hast du oben drauf eine Grünanlage - stehen ein paar Sträucher und Bäume und so was - und erst im Regen, vor allem Starkregen-Fall sieht man: Dann steht dort das Wasser und versickert dann und wird nicht in den Bach direkt eingeleitet."
    Gründächer: Vielseitiger Hochwasserschutz
    Ein anderes sehr wirkungsvolles Mittel, das aber weder in Dresden noch in einer anderen deutschen Stadt in einer relevanten Zahl umgesetzt wird, sind Gründächer – Flachdächer mit Erde und Pflanzen darauf. Auch Gründächer würden bei Starkregen das Wasser erst einmal zurückhalten, außerdem haben sie einen positiven Effekt auf das Stadtklima. Es fehlt allerdings am politischen Willen, es gibt dazu weder Vorschriften noch Förderprogramme.
    Dass Dresden die anderen Maßnahmen so strikt umsetzen kann, hat vor allem zwei Gründe: Die beiden Jahrhunderthochwasser mit den hohen Schäden haben die Notwendigkeit aufgezeigt, in den Hochwasserschutz zu investieren. Und weil die Stadt massiv wächst, ist sie für Investoren attraktiv und sie sind bereit, das zusätzliche Geld in die Hand zu nehmen. Das ist nicht überall der Fall, gerade schrumpfende Gemeinden können es sich nicht leisten, durch strenge Vorschriften Bauvorhaben zu verlieren.
    Bei sintflutartigen Regenfällen, so Christian Korndörfer, stoße aber jede Maßnahme einmal an ihre Grenzen. So wie im vergangenen Jahr in Braunsbach nahe Schwäbisch Hall, als der Ort förmlich weggespült wurde.
    "Die hatten in einer Stunde hundert Millimeter Niederschlag. Also ich kann sagen, meine Gewässer halten hier aus in Größenordnungen 40 Millimeter, maximal 50 Millimeter Niederschlag in einer Stunde. Aber bei hundert Millimeter Niederschlag bricht auch bei uns die Fähigkeit, sage ich mal, das zu bewältigen, zusammen."
    Jeder kann beim Hochwasserschutz helfen
    Ein vom Hochwasser betroffener Bewohner steht im Wasser und beobachtet im Überschwemmungsgebiete Dresden-Laubegast ein vorbeifahrendes Ruderboot.
    Beim Hochwasserschutz werden große Gemeinden bisher bevorzugt. (imago / Koall)
    Auch Markus Moser im Regierungspräsidium Stuttgart hat sich die Katastrophe in Braunsbach genau angeschaut. Seitdem appelliert er an jeden einzelnen Bürger: Jeder könne und müsse etwas gegen Schäden tun. Er fragt zum Beispiel bei Hausbesitzern nach, ob der Tank für die Ölheizung im Keller stehen muss. Bei einem Hochwasser läuft der als erstes voll. Tritt dann das Öl aus und läuft in das Wasser, verursacht das enorme Umweltschäden. Wenn die Hausbesitzer bei seinem Besuch auf den nahen Damm zeigen, dann schüttelt Moser nur mit dem Kopf.
    "Beim Hochwasserschutz ist mir wichtig, dass Hochwasserschutz immer endlich ist. Das heißt, er hat ein Bemessungsziel und wenn das überschritten wird, dann wird es dahinter nass. Und in der Regel sehr schnell und sehr hoch und das muss man einfach mit bedenken, wenn man Hochwasserschutz macht.
    Zudem muss Hochwasserschutz auch natürlich unterhalten werden. Also immer nur alle möglichen Schutzanlagen bauen und sagen: Jetzt ist alles gut. So geht es nicht. Das sind technische Bauwerke, die auch einen gewissen Unterhaltungsaufwand haben."
    Vor dem Schaden klug werden
    Sandsäcke liegen am 27.07.2017 in Hildesheim (Niedersachsen) vor dem Fluss Innerste. Dauerregen hat im südlichen Niedersachsen in einigen Orten zu Überschwemmungen geführt. Foto: Swen Pförtner/dpa | Verwendung weltweit
    Statt nach dem Hochwasser die Schäden aufzuräumen, wollen Gemeinden künftig vorbeugende Maßnahmen verbessern. (dpa/Swen Pförtner)
    Bis in die 1990er-Jahre hinein wurde schlicht überall da, wo ein Hochwasser drohte, ein Damm gebaut. Hat dieser nicht gehalten, dann wurde er erhöht. Doch diese Strategie kam irgendwann an ihre Grenzen, so Markus Moser.
    "Wir haben das Ziel verändert von 'Aus dem Schaden klug zu werden', das heißt, wenn irgendwo ein Hochwasser aufgetreten ist und man sagt: OK, diese Fläche muss jetzt trocken bleiben, zu, man könnte sagen: 'Vor dem Schaden klug werden'."
    Dem liegt die Kenntnis zugrunde, dass es nicht immer überall trocken bleiben kann. Also hat man sich darauf konzentriert, die Schäden in diesem Fall möglichst klein zu halten.
    Und plötzlich kamen sehr viele Akteure ins Spiel, neben den Landesregierungen, die gesetzlich in Deutschland für den Hochwasserschutz zuständig sind, waren das in erster Linie die Kommunen aber auch die Bürgerinnen und Bürger selbst, die Wirtschaft, landwirtschaftliche Betriebe, soziale Einrichtungen, die örtliche Feuerwehr. Alle die von Hochwasser betroffen sein können, hat man in Baden Württemberg in sogenannten Hochwasserpartnerschaften zum Dialog gebeten, wie sich Ralph-Dieter Görnert vom Regierungspräsidium Karlsruhe erinnert.
    "Da hat man sich mit allen Beteiligten an den Tisch gesetzt und hat geguckt, welche Bereiche sind denn betroffen und wer kann denn was dazu beitragen, um Hochwassergefahren zu vermindern, und auch die damit verbundenen Risiken."
    Eine zentrale Schwierigkeit war, dass man zu diesem Zeitpunkt – das war um die Jahrtausendwende - die Gefahren und Risiken bei Hochwasser noch gar nicht genau kannte. Deshalb ließen Görnert und auch seine Kollegen in den übrigen Bundesländern sogenannte Hochwassergefahrenkarten mit immensem Aufwand für das ganze Land erstellen.
    "Das war ein ganz wesentlicher Baustein dieses Konzeptes, dass man einfach mal eine Grundlage geschaffen hat, um für jedermann klar zu machen, wo denn die Gefahren durch Hochwasser entstehen können."
    Ganz Deutschland wurde beflogen und vermessen, die Topografie nachgezeichnet, Ingenieure mussten Flussläufe durchwandern oder mit Sonar vermessen, um das Flussbett erkenntlich zu machen.
    Erst mit diesen Daten konnte man dann simulieren, wie sich das Wasser bei den verschiedenen Pegeln verhält, wer wann gefährdet ist und wer nicht. Diese Karten stehen auch im Internet und sind für jeden einsehbar.
    Zurück in Sachsen, bei der landeseigenen Talsperrenverwaltung. Axel Bobbe führt in das Herz des sächsischen Hochwassermanagements, ein Raum mit zig Computern und Bildschirmen, Karten mit allen Talsperren und Pegelständen im Land.
    "Das ist hier so unsere Steuerzentrale, wo im Hochwasserfall sitzen hier mehrere, jetzt im Normalfall ein, zwei Mitarbeiter, weil alle Talsperren und Wehre, die wir steuern, automatisiert sind mittlerweile."
    Links an der Wand hängt ein riesiger Bildschirm, der die Gefahrenkarten zeigt. Alle Flüsse sind eingezeichnet, genauso die Topografie. Bobbe bedient nun ein Feld an der Seite, mit dem er verschiedene Hochwasserszenarien simulieren kann.
    "Als Erstes: Was passiert bei einem fünfjährlichen? Da sehen Sie, passiert nichts."
    Ein fünfjährliches Hochwasser ist ein Szenario, dass statistisch alle fünf Jahre auftritt. Kein Fluss verlässt bei einem solchen Pegel sein Flussbett. Bobbe klickt ein weiteres Feld auf dem Bildschirm an. Langsam färben sich Flächen rund um manche Flüsse blau, sie treten über die Ufer.
    "Wir reden jetzt hier über ein 25-jährliches Hochwasser, da geht ein Wald unter Wasser oder ein Acker unter Wasser. Das ist relativ egal, es gibt aber auch Bereiche, da ist Bebauung betroffen, und dann wird es spannend."
    Mit den Karten wurden alle Gebiete, die von einem 100-jährlichen Hochwasser betroffen wären, definiert und als Hochwasserrisikogebiete eingestuft. Dort darf grundsätzlich nicht mehr gebaut werden und wenn, dann nur als begründete Ausnahme und unter hohen Auflagen. In Sachsen kommt aber noch ein spezieller Umstand hinzu: Nach dem fatalen Hochwasser 2002 waren viele Dämme zerstört, ein Großteil des Hochwasserschutzes musste neu aufgebaut werden.
    Geschätzte Kosten: zwei Milliarden Euro. Das hatte zwar den Vorteil, dass man den Schutz am aktuellen Stand der Forschung ausrichten konnte: Dämme zurückversetzen beispielsweise, da wo es ging den Flüssen mehr Raum zugeben. Allerdings war so viel zu tun, dass man nicht wusste, wo man anfangen sollte – wie zum Beispiel im Leipziger Umland.
    "Podelwitz an der Mulde oder Großbothen an der Mulde, das sind alles kleine Dörfer. Dort steht im Hochwasserschutzkonzept, die kriegen mal einen 100-jährlichen Schutz. Aber! Da nicht überall gleichzeitig angefangen werden kann, hat der Freistaat gesagt, jetzt müssen wir mal priorisieren."
    Beim Hochwasserschutz gehen größere Städte vor
    Die Prioritäten werden durch verschiedene Faktoren ermittelt, erklärt Bobbe. Ein entscheidender Faktor ist eine Kosten-Nutzen-Analyse. Man untersucht also, wo die Schäden am höchsten wären, wenn der Fluss über die Ufer tritt. Damit ist klar: Die großen Städte wie Leipzig und Dresden haben absoluten Vorrang, weil hier die höchsten Werte gefährdet sind. Kleinere Dörfer mussten sich hinten anstellen.
    "Und dann ist es noch ein Stück schlimmer, jetzt haben wir in einigen kleineren Ortschaften Planung begonnen und haben gesagt, ok, wir müssen zumindest die Planung anschieben, dass wir sehen, wie aufwendig ist denn das, was wir dort zu machen haben und sind an einen Punkt gekommen in der Vorplanung. Da werden Varianten dann untersucht, da wird auch schon eine grobe Kostenbetrachtung gemacht und dann kommst du dann irgendwo nach ein, zwei Jahren Planung an den Punkt, dass du sagst: Dieses Projekt ist unwirtschaftlich."
    Man hat also untersucht, wie viel der Hochwasserschutz kosten würde und wie viel die Güter wert sind, die dadurch geschützt würden: Häuser, landwirtschaftliche Flächen, das Hab und Gut der Menschen: Ist der Hochwasserschutz - ein Damm beispielsweise - teurer, dann darf nicht gebaut werden. Das ist mittlerweile in ganz Deutschland so. Vorreiter für diese Kosten-Nutzen-Analyse waren die Schweiz oder auch Großbritannien, wo die geschützten Güter sogar acht Mal so viel wert sein müssen, wie der Schutz kostet. Das ist bei kleinen Städten manchmal nicht der Fall, geschweige denn bei Dörfern.
    In den Niederlanden gilt: Dem Fluss mehr Raum geben
    Auch in den hochwassergefährdeten Niederlanden hat das Konsequenzen für die Bewohner kleiner Orte. "Dem Fluss mehr Raum geben", so heißt hier das Konzept, berichtet Christian Kuhlicke vom Umweltforschungszentrum.
    "Das bedeutet aber nicht romantisch, man deicht zurück und gibt dem Fluss mehr Raum, sondern bedeutet, im Hochwasserfall werden gezielt gewisse Bereiche von Holland, gewisse Flächen geflutet. Auch besiedelte und bewohnte Flächen. Weil man sagt, im Prinzip ist es uns lieber, eine kleine Gemeinde mit 2.000 Einwohnern geht unter als wenn Rotterdam absäuft. Oder andere große Städte. Aber das ist öffentlich ausverhandelt worden. Also da gab es eine öffentliche Diskussion darüber: Teilen wir das, wollen wir das? Wie kompensieren wir das auch, wie kompensieren wir Schäden?
    Und das ist auch ein ganz wichtiger Punkt dabei. Also da ist man in Deutschland momentan, finde ich, nicht sehr ehrlich."
    Keine breite politische Diskussion in der Öffentlichkeit
    Eine politische Diskussion in der breiten Öffentlichkeit dazu, findet hier nicht statt. Kuhlicke schlägt beispielsweise vor, der Staat könne dort, wo er nicht für Hochwasserschutz sorgen kann, im Schadenfall einspringen. Da die Gesellschaft nicht den Schutz bezahlt, könnte sie etwaige Schäden kompensieren. Denn sonst würde der ländliche Raum gegenüber den Städten benachteiligt.
    In Sachsen musste Axel Bobbe in unzähligen Bürgerversammlungen, in Kneipen oder in Kirchen den Betroffenen das Konzept vorstellen, die Kosten-Nutzen Analyse und vor allem die Konsequenzen für die Betroffenen daraus erklären. Viele von ihnen waren von beiden Jahrhunderthochwassern in Sachsen betroffen, erinnert er sich, haben innerhalb von elf Jahren zwei Mal ihr Hab und Gut verloren. Axel Bobbe musste dort teilweise mit Polizeischutz auftreten.
    "Es ist wirtschaftlich nicht darstellbar, den Teil dieses Dorfes für ein Jahrhunderthochwasser zu schützen, wenn der Schutz das Dreifache dessen ist, was am Ende an Schaden entsteht. Das begreifen die Menschen noch schwieriger. Denen dann zu sagen: Ihr seid nicht mehr dran. Wir haben geprüft, wir haben geplant bei euch. Ihr kriegt nichts."
    Die Kosten-Nutzen Analyse hatte in Sachsen besonders harte Konsequenzen. Beim Wiederaufbau nach dem Hochwasser im Jahr 2002 wurde sie rigoros angewandt. Das stieß auch auf Unverständnis: Menschen, die nach der Überschwemmung traumatisiert waren, mussten akzeptieren, dass ihre Gemeinde auch künftig nicht gut genug gegen Hochwasser gerüstet sein wird. Trotz der Kritik: Auch andere Bundesländer werden in Zukunft die Kosten-Nutzen-Analyse anwenden.