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Vor Gericht

Otto Reutter sang es in den Zwanziger Jahren, als Mahnung an alle Besitzer teurer Kleidungsstücke:

Von Florian Felix Weyh | 04.06.2004
    Geben Se acht auf die Pracht / Wird gestohln bei Tag und Nacht / Sind Se mal im Lokal / Häng Se’n vor sich auf im Saal / Schaun Se’n dann immer an / Bleibt der Überzieher dran / Sehn Se weg von dem Fleck / Ist der Überzieher weg.

    Schon damals war dieses berühmte Couplet von einem Schild inspiriert: "Für Garderobe keine Haftung". Wohin man kommt, ob Kaschemme oder Feinschmeckerlokal, dem silbernen Schild entrinnt man kaum. Juristisch ist es irreführend beziehungsweise irrelevant. Wer, wie in Otto Reutters Couplet, sein gutes Stück sichtbar vor sich aufhängt oder über die Stuhllehne drapiert und dennoch bestohlen wird, kann dafür niemanden – außer natürlich den Dieb – zur Rechenschaft ziehen. Anders in Nobelrestaurants, in denen einem schon an der Tür der Mantel abgenommen wird, oder – wohl der häufigste Fall – in jenen verwinkelten Gaststätten, in denen man die Garderobe vom Tisch aus nicht sehen kann.

    Ob dort das berühmte Schild aushängt oder nicht, bleibt rechtlich folgenlos, der Gastwirt haftet auf jeden Fall. Sinn machen die vier Worte nur in einem Fall: Wenn zwei Aufhängemöglichkeiten existieren, eine offen sichtbare und eine uneinsehbare. Dann darf der Wirt auch für letztere die Haftung ausschließen, da er dem Gast ja eine Alternative zur Verfügung stellt. Entschiede ein Gericht auch so, wenn die sichtbaren Haken belegt sind und die Alternative nur auf dem Papier steht? Vermutlich hülfe in diesem Fall dem Wirt dann der Umstand weiter, dass Rechtsirrtümer wie geltendes Recht funktionieren, indem sie das Verhalten der Bevölkerung steuern. Soll heißen: So lange niemand weiß, dass ein Wirt sehr wohl für die Garderobe haftet, wird niemand Wirte vor den Kadi zerren.

    Eine hübsche Sammlung solcher Widersprüche zwischen Irrglaube und Gesetzeslage hat der Jurist Ralf Höcker in seinem "Lexikon der Rechtsirrtümer" zusammengetragen. Manche davon sind in ihrer Entstehung mysteriös. Wie etwa kam es zur weit verbreiteten Annahme, Polizisten seien nicht im Dienst, so lange sie keine Uniformmützen trügen? Andere hingegen greifen ins tägliche Leben ein und verschieben dort die Gewichte zwischen den streitenden Parteien. Ein Fitness-Studio untersagt den Verzehr von mitgebrachten Getränken, ein Supermarkt führt an der Kasse Taschenkontrollen durch. Beides juristisch unstatthaft, der Kunde kann sehr wohl eigenes, billiges Mineralwasser zwischen den Übungen trinken, und niemand muss Einblick in seine Taschen gewähren. Fragt sich nur, und auf solchem Wege stabilisieren sich die Rechtsirrtümer, wer denn Kraft und Ausdauer genug besitzt, auf sein Recht zu pochen, wenn hinter ihm eine lange Schlange wartet? Recht haben und Recht durchsetzen sind eben zweierlei.

    Es gibt darüber hinaus keine "Beamtenbeleidigung", nicht mal für den Fußballer Effenberg, und auch keine "Zechprellerei", so lange man sich auf deutschem Boden und nicht in der Schweiz aufhält. Dafür bleibt der Gefängnisausbruch hierzulande straflos, wenn man ihn ohne Komplizen bewerkstelligt. Man darf dabei keine Türen beschädigen, keinen Wärter niederschlagen und auf der Flucht keine roten Ampeln überfahren. Gelingt einem dies alles – also händigt einem der Wärter den Schlüssel praktisch freiwillig aus, wofür wiederum er bestraft wird –, dann kriegt man keine neue Strafe aufgebrummt. Die eigenmächtig verkürzte alte muss man natürlich trotzdem absitzen, sobald man wieder eingefangen ist.

    Ein eher kurioses Beispiel, dessen Nützlichkeit auf eine kleine Bevölkerungsgruppe beschränkt bleibt. Der weitaus größere Rest des Buches hat dagegen das Zeug zur juristischen Hausapotheke, denn in etlichen praktischen Belangen irren die Menschen systematisch zu ihren Ungunsten. Wer seine Haftpflichtversicherung informiert, der eigene, ungeratene Sprössling habe die Fensterscheibe des Nachbarn zertrümmert, obwohl man aufmerksam aufgepasst und seine Aufsichtspflicht nicht verletzt habe, entlässt die Versicherung aus der Zahlungspflicht. Die tritt nämlich nur ein, wenn man unaufmerksam gewesen ist. Man sieht: Bei Rechtsirrtümern gibt es fast immer Sieger und Verlierer. Und bloß nicht glauben, was tagtäglich im Fernsehen läuft! Drehbuchschreiber orientieren sich an ihren amerikanischen Kollegen, und die bilden ein ganz anderes Recht ab als unser europäisches.

    Ralf Höcker
    Lexikon der Rechtsirrtümer
    Ullstein, 334 S., EUR 8,95