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Vor zehn Jahren: Entenwal in der Themse
Ausflug mit traurigem Ausgang

Die Strandung eines großen Entenwals vor zehn Jahren mitten in London hat viele Schaulustige in Staunen versetzt. Am 20. Januar 2006 verirrte sich das große Tier, das aus der Tiefsee des Nordatlantiks kam, bis in die Themse.

Von Monika Seynsche | 20.01.2016
    Januar 2006: Helfer hieven einen Entenwal, der in der Themse gestrandet war, auf einen mit weichen Matten gepolsterten Lastkahn.
    Mittags hievten Rettungstaucher das sechs Meter lange Tier auf einen mit weichen Matten gepolsterten Lastkahn. (picture-alliance/ dpa - epa ansa Giulia Muir)
    Die Pendler, die am Morgen des 20. Januar 2006 mit dem Zug in die City fahren, trauen ihren Augen nicht: in der Themse, mitten in London, schwimmt ein riesiger Wal. Das Tier hat einen langen, tonnenförmigen Körper und den Kopf eines Vogels – mit vorgewölbter Stirn und schmalem Schnabel. Ein Mann benachrichtigt die Behörden, sie rufen Paul Jepson herbei. Der Tierarzt der Zoologischen Gesellschaft London ist Spezialist für Meeressäuger.
    "Es war völlig surreal. Man erwartet nun mal keinen Nördlichen Entenwal in der Themse. Im Mündungsbereich leben Robben, und manchmal sehen wir Schweinswale hier, aber Nördliche Entenwale sind Tiefseetaucher, die normalerweise weit weg im Nordatlantik leben. Das war wirklich außergewöhnlich."
    Als Paul Jepson die Themse erreicht, stehen schon Tausende von Schaulustigen an den Ufern, auf dem Wasser umringen Dutzende von Booten den Wal. Hubschrauber mit Kamerateams kreisen über dem Fluss. Der erste Entenwal in der Themse seit Beginn der Aufzeichnungen des Londoner Naturhistorischen Museums im Jahr 1913 lockt so viele Menschen an, wie zuletzt die Beerdigung Winston Churchills.
    In die Themse abgebogen anstatt in den Ärmelkanal
    Normalerweise leben Nördliche Entenwale in den Tiefen des Nordatlantiks und jagen in über 1.000 Metern Tiefe. Ihrer Beute folgend, wandern sie im Jahresverlauf nach Süden. Möglicherweise sei der Themsewal dabei falsch abgebogen, sagt Michael Dähne vom Deutschen Meeresmuseum in Stralsund.
    "Prinzipiell ist es sehr, sehr wahrscheinlich, dass der Entenwal nördlich von Schottland in die falsche Richtung geschwommen ist. Dass er also nicht weiter westlich geschwommen ist, sondern weiter östlich in Richtung Nordsee und auf seiner saisonalen Wanderung dann weiter südlich gekommen ist. Irgendwann mal muss er dann ja in Richtung Westen abdrehen. Und da hat er scheinbar dann die Themsemündung erwischt und nicht unbedingt den Ärmelkanal."
    Ein Navigationsfehler mit gravierenden Konsequenzen. Nach der ersten Sichtung irrt der Wal anderthalb Tage lang durch London. Immer wieder strandet er, schwimmt sich los, versucht verzweifelt, sich mithilfe seiner Echoortung im flachen Wasser zu orientieren und strandet wieder. Nach einigen Stunden ist sein Bauch vom Themsestrand blutig gescheuert, sein Verhalten panisch. Im Laufe des Tages wird immer klarer, dass der Entenwal es nicht allein schaffen wird. Mittags hieven Rettungstaucher das sechs Meter lange Tier auf einen mit weichen Matten gepolsterten Lastkahn. Sie verbinden ihm die Augen und übergießen es immer wieder mit Wasser. Der Kahn soll den Wal zurück in die Nordsee bringen. Mit an Bord ist der Tierarzt Paul Jepson.
    "Das Problem war, dass das Tier den ganzen Nachmittag über viel zu schnell geatmet hat. Normalerweise atmen Entenwale ein oder zwei Mal in der Stunde. Sie tauchen ja in über 1.000 Meter Tiefe und können die Luft lange anhalten. Aber unser Wal hat etwa zehn Mal in der Minute geatmet. Gegen Abend wurde es noch schlimmer. Sein Zustand verschlechterte sich zunehmend. Und dann, gegen 19 Uhr, bekam er einen Krampfanfall."
    Die Atmung setzt aus. Der Themsewal stirbt. Als Paul Jepson und seine Kollegen das Tier später obduzieren, finden sie schwere Verletzungen der Muskeln, Schäden an den Nieren und Anzeichen für einen Wassermangel. Entenwale können Wasser nur über ihre Nahrung aufnehmen. Und das sind Tiefseetintenfische, die es in der Themse nicht gibt. Ohne sie verdursten die Meeressäuger.
    Warum sich der Wal überhaupt in die Themse verirrte, ist bis heute unbekannt. Generell weiß die Wissenschaft wenig über Nördliche Entenwale. Doch aus der Rettungsaktion haben die Wissenschaftler Konsequenzen gezogen:
    "Einige Jahre nach dem Vorfall gaben wir eine Presseerklärung heraus, um den Leuten mitzuteilen, dass wir den nächsten großen Wal in der Themse direkt töten werden. Die Tiere können im flachen Wasser des Flusses einfach nicht überleben. Ihr eigenes Körpergewicht erdrückt sie. Es ist unmöglich, sie zu retten. Wir wollen sie nicht unnötig leiden lassen."
    Das Schicksal des verirrten Wals rührte ganz England. Und es inspirierte die Rockband "The Good, the Bad and the Queen" zu einem Song mit dem Titel "Northern Whale".