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Vorausschauende Fähigkeit eingebüßt

Der Publizist Ulrich Grober erweitert in seinem Buch den Begriff der Nachhaltigkeit. Ihm geht es um sehr viel mehr als die Erhöhung der Deiche und die Reduzierung des CO2-Austauschs.

Von Thomas Kleinspehn | 08.07.2010
    Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Politiker sprechen von nachhaltigen Planungen und nachhaltigem Wachstum, die Werbung verheißt uns nachhaltige Produkte und auch für Umwelt- oder Klimaschützer ist Nachhaltigkeit ein zentraler Begriff. Die meisten dieser ganz unterschiedlichen Perspektiven passen so gar nicht zusammen oder widersprechen sich sogar.

    Der Publizist Ulrich Grober hat deshalb nach den Wurzeln des Begriffs "Nachhaltigkeit" gesucht und gefragt, was sich dahinter eigentlich für Vorstellungen verbergen. Dabei ist er nicht zuletzt im Wald gelandet, in dem sich die Forstwirte schon in der frühen Neuzeit darum bemühen mussten, das abgeschlagene Holz wieder aufzuforsten, um den Wald nachhaltig zu erhalten.

    "Nachhaltigkeit ist ein Kind der Krise, immer gewesen. Und in einer der ersten weltumspannenden Ressourcenkrisen ist tatsächlich dieses Konzept auch zur Welt gekommen. Das war der drohende Mangel an der Ressource Holz schon im 16. / 17. Jahrhundert. In dieser Krise haben wirklich die klügsten Köpfe Europas darüber nachgedacht, wie können wir diese drohende Ressourcenkrise abwenden und das führte zu einer Strategie der Reduktion des Eingriffes in den Wald. Und das nannte man Nachhaltigkeit. Also wir halten Holzbestände, Waldbestände nach, nutzen sie für uns nicht, sondern reservieren sie für kommende Generationen. Und das, finde ich, ist ein wunderbares Beispiel, wo Nachhaltigkeit praktiziert worden ist."

    Das Aufforsten des Waldes dient Grober deshalb als ein Modell, das seiner Meinung nach in der heutigen Diskussion verloren gegangen ist und an das er wieder anknüpfen möchte. Denn unter neoliberaler Vormacht denken wir überwiegend kurzfristig. Ressourcen werden heute genutzt. Solange wir ausreichend Rohstoffe für Energie und industrielle Produktion haben, wird nicht nach Wiederaufbau, Regenerierung, Erneuerung oder eben Nachhaltigkeit gefragt. In den Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts entdeckt Grober dagegen noch andere Perspektiven, die das Denken von den an der Ökonomie ausgerichteten Theorien der Gegenwart unterscheidet.

    "Zum einen haben wir die Fähigkeit weitgehend eingebüßt, vorauszuschauen und vorzusorgen. Und das war in der Renaissance oder in der frühen Aufklärung ein ganz entscheidender Punkt, dass man gesagt hat, das kurzfristige Denken – auf kurzfristige Profite ausgerichtetes Denken – damals schon, wird uns nicht die Zukunft sichern, sondern wir müssen diese Fähigkeit, wirklich in langen Zeiträumen denken, kultivieren. Und das ist die Lektion aus der Geschichte, die heute umso dringlicher geworden ist. Denn wir haben mit dem Einstieg in das fossile Zeitalter diese Fähigkeit, vorauszuschauen, eingebüßt und die müssen wir wieder gewinnen."

    Um an diese alte Tradition der Nachhaltigkeit wieder anknüpfen zu können, braucht Grober den Blick auf die Kulturgeschichte des Begriffs. Er ermöglicht nicht nur anderes Denken zu rekonstruieren, sondern auch zu differenzieren. Denn in der Wende zur Moderne gab es in der lebensphilosophischen oder diätetischen Diskussion durchaus schon parallel beide Vorstellungen. Grober spricht hier vom "Modell Descartes" und "Modell Spinoza" – hier die rationale, an der Beherrschung der Natur ausgerichtete Sichtweise, dort ein ganzheitliches, am Leben orientiertes Denken. Spuren von beidem können wir noch heute finden.


    "Auf beiden Linien haben sich Nachhaltigkeitskonzepte in der Geschichte entwickelt. Ich glaube, dass die Linie, die von Spinoza eingeführt worden ist, wir heute sehr dringend brauchen können – nämlich dass wir unsere Ökonomie in die ökologischen Zusammenhänge wieder einbetten. Oder wie Linné hundert Jahre später gesagt hat, wir müssen unsere Ökonomie in die oeconomia naturae, in die Haushaltung der Natur einbetten. Und wir können die Natur nur entsprechend ihrer Tragfähigkeit nutzen. Wenn wir die Fruchtbarkeit, die Erneuerbarkeit unserer Natur durch unsere Nutzung beschädigen, werden wir am Schluss den Planeten geplündert haben."

    Und diese Plünderung unserer Umwelt ist aus der Sicht Grobers umfassender als das Begriffe wie Energie- oder Klimakrise ausdrücken können. Das Fehlen von Nachhaltigkeit in unserem Denken verweise vielmehr auf die Krise unserer Zivilisation. Wir hätten verlernt, das Gesamt im Auge zu behalten und ökonomische, ökologische und soziale Fragen zu verknüpfen. "Nachhaltige Entwicklung" sei deshalb eine "Strategie, um Lebensqualität und Partizipation ... für jeden zu öffnen."

    Aus dieser Sichtweise heraus geht es in Grobers Buch um sehr viel mehr als den CO2-Ausstoß oder die Erhöhung der Deiche. Vielmehr zielt er auf ein Umdenken insgesamt, das die Wirtschaft genauso betrifft wie die Demokratie. Mit seinem Rückgriff auf die Geschichte trägt Ulrich Grober Theorien und Sichtweisen zusammen, in denen ganzheitliches Denken vorkommt.

    Exemplarisch findet er diese Ideen in der Gaia-Theorie von Lovelock und Margulis aus den 70er-Jahren. Mit der griechische Göttin Gaia verbindet sich die Vorstellung von der Erde als einer komplexen Einheit von Biosphäre, Atmosphäre, Ozean und Boden. Der Mensch ist in diese Gesamtheit integriert und nicht der Beherrscher. Diese Ideen wurden in den Alternativbewegungen oder in der Popkultur der letzten 50 Jahre immer wieder aufgegriffen. Sie finden sich auch heute noch in moderneren Theorien, etwa der Biodiversität, also der Artenvielfalt, die es auf allen Ebenen zu erhalten gelte.

    Für Grober bündeln sich all diese Sichtweisen in dem Begriff der Nachhaltigkeit, weshalb er auch an ihm festhalten will, obwohl er inzwischen inflationär gebraucht und auch missbraucht wird.

    "Ich glaube, der Begriff ist so stark aufgeladen mit den ökologischen und auch den sozialen Inhalten, dass es nicht nötig ist, ihn zu ersetzen, man muss ihn nur richtig verstehen. Man muss ihn nur schärfen und klären und dann ist es meiner Meinung nach ein wunderbarer Begriff, ein großer Wurf, auf den sollten wir nicht verzichten."

    Grobers Buch erinnert euphorisch daran, dass Ökologie und Demokratie unmittelbar zusammengehören. Im Vordergrund steht Solidarität und nicht Askese. Man könnte dem Autor den Vorwurf machen, er sei mit seinem Versuch, ganzheitliche Perspektiven wiederzubeleben, idealistisch und in gewisser Weise naiv. Es ist aber sicher vermessen, von dieser Art Büchern pragmatische Handlungsanweisungen zu erwarten. Sie können aber dazu dienen, allzu kurzfristiges Denken wieder zu entstauben und daran zu erinnern, dass Lebendigkeit nicht nur mit rationaler Planung zu erhalten ist, sondern dazu auch Zusammenhalt und Kultur gehört – nachhaltige Veränderung eben.

    Ulrich Grober: "Die Entdeckung der Nachhaltigkeit".
    Verlag Antje Kunstmann, München 2010, Preis: Euro 19,90