Freitag, 19. April 2024

Archiv


Vorbild für realistisches Theater in Europa

Henrik Ibsen schrieb nahezu 30 Theaterstücke. Die meisten von ihnen, wie "Stützen der Gesellschaft" oder "Gespenster", werden bis heute regelmäßig inszeniert. Für die deutschen Dramatiker wurde sein Werk Ansporn und Verpflichtung. Der Norweger starb am 23. Mai 1906.

Von Reinhardt Stumm | 23.05.2006
    Es fing gar nicht so gut an. Henrik Ibsen kam im März 1828 in Skien, der Hauptstadt des Amtes Telemark in Südnorwegen, auf die Welt, damals um 5000 Einwohner, Holz- und Papierindustrie, Flusshafen, Reederei, Gymnasium, vier Banken. Als der Junge sechs Jahre alt war, ging das Geschäft seines Vaters bankrott. Henrik, der gern Maler geworden wäre, musste in eine Apothekerlehre. Da war er nicht nur fleißig, er war auch wach und ehrgeizig. Er büffelte für das Abitur, das er erfolgreich nachholte, er kommentierte die Februarrevolution von 1848 mit revolutionären Gedichten, ein dreiaktiges Revolutionsdrama "Catilina" wurde vom Theater in Christiania höflich abgelehnt.

    "Ich lebte damals in Grimstad und war darauf angewiesen, mir das, was ich zum Lebensunterhalt wie zur Vorbereitung auf das akademische Examen nötig hatte, selbst zu erwerben. Die Zeit war voll Sturm und Drang. Die Februarrevolution, die Aufstände in Ungarn und anderswo, der Schleswiger Krieg - all das griff mächtig und fördernd in meine Entwicklung ein, wie unfertig sie auch lange danach noch bleiben mochte."

    Später amüsierten ihn seine volltönenden Gedichte an die Magyaren, die er dazu aufrief, der Freiheit und Menschheit zum Frommen in dem gerechten Kampfe wider die "Tyrannen" auszuharren. Er bekannte freilich auch:

    "Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich hinzufügen, dass mein Auftreten in verschiedenen Beziehungen die Gesellschaft auch wirklich nicht gerade zu der Hoffnung berechtigte, die Bürgertugenden würden durch mich einen Zuwachs erhalten – wie ich mich denn auch durch Epigramme und Karikaturen mit mehreren Leuten überwarf, die Besseres um mich verdient hatten, und auf deren Freundschaft ich im Grunde Wert legte. Überhaupt - während da draußen eine große Zeit brauste, lebte ich auf Kriegsfuß mit der kleinen Gesellschaft, in die der Zwang der Lebensbedingungen und der Umstände mich sperrte."

    Er war jetzt 22 Jahre alt, ging zum Medizinstudium nach Oslo, aber daraus wurde nicht viel. Die Freundschaft mit dem Dramatiker Björnsterne Björnson wurde wichtig. 1851 übernahm Ibsen das Neue Theater in Bergen, wo er seine ersten Stücke unterbrachte, 1857 wurde er Direktor des Norske Teatret in Oslo, dessen Kollaps ihn 1862 wieder einmal an den Bettelstab brachte.

    Björnson half. 1864 bekam Ibsen, inzwischen verheiratet, ein Reisestipendium. Das Ehepaar ging nach Rom, Dresden und München und blieb fast 30 Jahre unterwegs, bis 1891. In Deutschland erzielte Ibsen 1877 mit "Stützen der Gesellschaft" die erste tiefe Wirkung. Der Dramatiker wurde Vorbild für das realistische Theater in ganz Europa. Plötzlich geht es mit aller Unverblümtheit um öffentliche Moral, wird der brüchige Unterbau des Bürgertums zum Thema, wird das intime Abbild menschlicher Beziehungen zur Metapher für gesellschaftliche Wirklichkeit, wie in dem Familiendrama "Gespenster", mit dem Max Reinhardt 1905, ein Jahr vor Ibsens Tod, die Kammerspiele des Deutschen Theaters in Berlin eröffnete. Leopold Lindtberg inszenierte "Gespenster" 1982 in Zürich - mit Heidemarie Hatheyer und Wolfgang Stendar:

    Frau Alving: "Ja, damals, als sie mich zu dem zwangen, was sie meine Pflicht und Schuldigkeit nannten, da begann ich ihre Lehren in den Nähten zu prüfen. Ich wollte nur an einem kleinen Knoten zupfen – aber als ich den gelöst hatte, da löste sich das ganze Gewebe auf! Und ich sah, dass es nur billige Dutzendware war."

    Pastor Manders: "Sollte das der Gewinn sein aus dem schwersten Kampf meines Lebens?"

    Frau Alving: "Nein, das ist ihre jämmerlichste Niederlage!"

    Für die deutschen Dramatiker war das Werk Ibsens Ansporn und Verpflichtung. Arno Holz, Johannes Schlaf, Hermann Sudermann, vor allem aber Gerhart Hauptmann trieben voran, was er angefangen hatte. Das Theater musste der Darstellung der Wahrheit dienen, durfte das Schreckliche, Laster und Krankheit nicht verschweigen, suchte die unverfälschte Darstellung der Wirklichkeit. Ibsen hatte den Weg gewiesen mit Stücken wie "Nora", "Ein Volksfeind", "Die Wildente", "Hedda Gabler". Sie gehören bis heute zum Repertoire.

    So hell, lesbar, begreifbar sie allerdings für uns sein mögen, so lastend, drückend, schwer schienen sie den Zeitgenossen. In seiner 1904, zwei Jahre vor Ibsens Tod erschienenen, kulturgeschichtlichen Darstellung "Das deutsche Theater im neunzehnten Jahrhundert" verstand Max Martersteig Ibsen als

    "eine rätseldunkle Wolke, über dem gesamten kulturellen Leben zusammengeballt, bald vernichtende Wetterschauer niedersendend und grelle Blitze ausstreuend, dann aber auch wieder Ausblicke freilassend in einen Äther von seltsamer Leuchtkraft, Ausblicke, die doch wieder aller derer Bangen weckte, die das liebliche Blau am Himmel und den Frieden kündenden Regenbogen als Symbole erlösender Dichtung wünschen."