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Vorbild oder Sonderweg in Europa?

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Euro-Rettungsschirm ESM und dem Fiskalpakt unter Auflagen zugestimmt. Deutschland ist aber nicht das einzige Land, das erst gerichtlich klären lassen musste, ob die eigene Verfassung deren Ratifikation erlaubt.

Von Maximilian Steinbeis | 12.09.2012
    "Meine Damen und Herren, die vorliegenden Verfahren haben den Senat vor besondere Herausforderungen gestellt."

    Lange war der Richterspruch erwartet worden, heute hat Karlsruhe entschieden. Die Eurorettungsverträge ESM und Fiskalpakt können in Kraft treten:

    ... wenn zugleich völkerrechtlich sicher gestellt wird, dass
    1. sämtliche Zahlungsverpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus diesem Vertrag der Höhe nach auf die in Anhang zwei des Vertrags genannte Summe in dem Sinne begrenzt, dass das keine Vorschrift des Vertrages so ausgelegt werden kann, dass für die Bundesrepublik Deutschland ohne Zustimmung des deutschen Vertreters höhere Zahlungsverpflichtungen begründet werden.
    2. Die Regelungen nicht der umfassenden Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates entgegen stehen.


    Führte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am Vormittag aus. Das heißt, die Bundesregierung muss sicher stellen, dass die Haftung Deutschlands beim ESM auf die vereinbarten 190 Milliarden Euro begrenzt ist. Eine Erhöhung kann nur mit Zustimmung des Bundestages erfolgen. Klare Anforderungen an den ESM-Vertrag, den Deutschland noch ratifizieren muss. Er hätte eigentlich schon im Juli in Kraft treten sollen.

    Schon 1993 in seinem Urteil zum Maastricht-Vertrag und 2009 in seiner Lissabon-Entscheidung hatte der Zweite Senat des Gerichts sehr detailliert beschrieben, wie Europa beschaffen sein muss, damit es den Anforderungen des Grundgesetzes – beziehungsweise des Senats selbst – genügt. Aus deutscher Sicht ist das selbstverständlich: Wenn Deutschland europarechtliche Bindungen eingeht, muss das verfassungsrechtlich erlaubt sein.

    Aber von außen betrachtet stellen sich ganz andere Fragen: Wie kommen diese acht Richterinnen und Richter zu einer solchen, weit über die deutschen Grenzen hinauswirkenden Gestaltungsrolle für die Zukunft Europas? Wie kommt das, was sie tun, in anderen Ländern der Europäischen Union an? Wie passt die Linie, die das Gericht Europa vorgibt, in deren teils ganz andere Verfassungskulturen?

    "Ein Verfassungsgericht, das von seiner institutionellen Ausgangsposition überhaupt in der Lage wäre, eine solche Ambition, wie sie das Gericht bei uns in europapolitischen Angelegenheiten entwickelt, zu formulieren, gibt es im sonstigen Raum der Europäischen Union nicht"

    , sagt Christoph Schönberger, Professor für Verfassungs- und Europarecht an der Universität Konstanz.

    "Das muss nicht gegen das Bundesverfassungsgericht sprechen, es ist eben sowieso eine deutsche Sonderinstitution, aber ich glaube, es zeigt eben auch, dass das Bundesverfassungsgericht hier an der äußersten Grenze dessen operiert, was Verfassungsgerichte überhaupt leisten können."

    Was die Eurorettungsverträge ESM und Fiskalpakt betrifft, so ist tatsächlich Deutschland keineswegs das einzige Land, das erst gerichtlich klären lassen musste, ob die eigene Verfassung deren Ratifikation erlaubt. In Irland, Estland und Frankreich gab es ebenfalls Gerichtsverfahren und Verfassungsurteile dazu, von denen allerdings in Europa sehr viel weniger Notiz genommen wurde als von dem Verfahren vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht.

    In Irland hatte ein Parlamentsabgeordneter gegen die Beteiligung am Haftungsmechanismus ESM geklagt. Dieser soll mit einem Kapital von 700 Milliarden Euro in Not geratene Mitgliedsstaaten mit Krediten versorgen, um zu verhindern, dass die Eurozone auseinanderreißt. Der Kläger berief sich darauf, dass nach der irischen Verfassung ein solcher Schritt nicht ohne Referendum zulässig sei.

    Der irische High Court und noch deutlicher der irische Supreme Court schalteten daraufhin zunächst einmal den Europäischen Gerichtshof ein. Dem liegen jetzt einige höchst umstrittene Fragen vor, die das Recht auf EU-Ebene betreffen: Verbieten die EU-Verträge den sogenannten Bailout, also Rettungsmaßnahmen für andere Euroländer, die in Haushaltsnöten sind? Dürfen ESM und Fiskalpakt auf EU-Institutionen wie Kommission und Gerichtshof zurückgreifen, obwohl diesen Mechanismen noch nicht alle EU-Mitgliedsstaaten zugestimmt haben? Ein Urteil des EuGH wird nicht vor Spätherbst erwartet.

    Der irische High Court untersuchte aber auch ausführlich, ob der ESM-Vertrag mit der irischen Verfassung in Einklang zu bringen ist. Und konnte kein Problem erkennen:

    "Der High Court kam zu dem Ergebnis, dass eben hier keine verfassungswidrige Entäußerung der Souveränität im Raum steht"

    , erklärt der Europa-Rechtsprofessor Ferdinand Wollenschläger von der Universität Augsburg. Die Maßstäbe, die das irische Gericht dabei an die Verträge angelegt, so Wollenschläger, unterschieden sich dabei gar nicht so von denen des Bundesverfassungsgerichts:

    "Die irische Verfassung fordert, genauso wie es das Bundesverfassungsgericht abgeleitet hat aus dem Grundgesetz, eine parlamentarische Entscheidung über die Verpflichtung, Mittel aufgrund internationaler Verträge zur Verfügung zu stellen und daraus folgt natürlich auch das Gebot einer entsprechenden parlamentarischen Mitwirkung sowohl bei der Bereitstellung der Mittel als auch bei der laufenden Verwendung, so wie es das Bundesverfassungsgericht ja auch im deutschen Kontext gefordert hat."

    Anders als Karlsruhe, das bisher stets sehr grundsätzlich auf diese Maßstäbe gepocht hatte, sei das irische Gericht aber sehr pragmatisch mit dem Verfassungsgebot umgegangen, die nationale Demokratie nicht auszuhöhlen. Professor Wollenschläger:

    "Irland hätte natürlich zu dem Ergebnis kommen können, gemessen an diesen strengen Maßstäben, dass eben diese Bestimmung des ESM-Vertrags verfassungswidrig ist. Da kam - und ich glaube, das ist ein ganz interessanter Unterschied auch jedenfalls zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - da hat eben der irische High Court eine pragmatische Abwägung mit den Zielen durchgeführt des ESM-Vertrags, nämlich für Stabilität in der Eurozone zu sorgen, und eben festgestellt, dass zur Sicherheit dieses Stabilitätsziels eine gewisse Flexibilität in Eilfällen notwendig ist, und ist eben deswegen zu dem Ergebnis gekommen, obwohl hier eine Majorisierung droht, trotzdem kein Verstoß gegen die irische Verfassung im Raum steht."

    Man kann darüber spekulieren, ob dem irischen Gericht dieser Pragmatismus vielleicht deshalb besonders leicht fiel, weil Irland im Augenblick eher auf der Empfänger- als auf der Zahlerseite im ESM zu finden wäre. Verfassungsrechtlich ist allerdings die Situation Irlands eher noch prekärer als die der Bundesrepublik: Denn kleine Länder wie Irland, das nur 1,5 Prozent Anteil am ESM hält, verfügen nicht über eine Sperrminorität und können in Eilfällen überstimmt werden. Anders als Deutschland mit seinen gut 27 Prozent Stimmanteil können sie sich daher nicht darauf verlassen, stets selbst für die Wahrung ihrer Interessen sorgen zu können.

    Dieser Aspekt stand im Mittelpunkt des Verfahrens vor dem estnischen Verfassungsgericht: Estland verfügt nur über knapp 0,2 Prozent der Stimmen im ESM. Dies, so das Ergebnis des estnischen Verfassungsgerichts, verletze zwar in der Tat das Gebot der estnischen Verfassung, dass Estland ein souveräner Staat zu bleiben habe. Aber, so die Richtermehrheit, die Verfassung verfolge auch noch andere Ziele, allen voran die Sicherung der Rechte und Freiheiten der Esten. Und die könne der Staat nur gewährleisten, wenn er nicht pleite gehe. Davor könnte der ESM das kleine Land im Notfall schützen.

    "Wenn das deutsche Verfassungsgericht auf der einen Seite des Spektrums ist, was die Offenheit gegenüber der europäischen Integration betrifft, dann ist der estnische Oberste Gerichtshof am anderen Ende"

    , erläutert der tschechische Experte für vergleichendes Verfassungsrecht Jan Komárek, der an der London School of Economics Europarecht lehrt.

    "Schon seine frühere Entscheidung zum EU-Beitritt Estlands war sehr offen und ermöglichte den Vorrang des Europarechts vor dem Verfassungsrecht. In diesem Fall, etwas eigenartig, fand das estnische Gericht, dass man die Begriffe der Verfassung wie Souveränität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Volksherrschaft im Lichte anderer Normen der Verfassung auslegen muss, nämlich der Grundrechte – und dass diese Grundrechte nur verwirklicht werden können, wenn Estland diesen Verträgen beitritt. Auf diese Weise haben die Richter einen Weg gefunden, den Konflikt zu lösen."

    Das unter extremem Zeitdruck gefundene Argument, ESM und Fiskalpakt seien zur Sicherung der Grundrechte notwendig, leuchtete aber nicht allen Mitgliedern des estnischen Gerichts ein. Nur eine hauchdünne Mehrheit der 19 Richterinnen und Richter trug das Urteil mit. Neun Verfassungsrichter stimmten dagegen und veröffentlichten Sondervoten, die zum Teil in drastischen Worten anprangerten, dass damit die erst vor zwei Jahrzehnten zurück gewonnene Souveränität Estlands preisgegeben werde.

    Frankreich gehört, anders als Irland und Estland, zu den Schwergewichten im ESM. Der französische Verfassungsrat hatte indessen nicht über den ESM, sondern über den dazugehörigen Fiskalpakt zu urteilen. Der Fiskalpakt verpflichtet die Euroländer, Schuldenbremsen zu installieren, und ermächtigt die EU-Kommission und den Europäischen Gerichtshof, die Einhaltung dieser Pflichten zu überwachen. Ist das mit dem Recht der französischen Nation, über ihre finanziellen Angelegenheiten selbst zu bestimmen, vereinbar?

    Ja, das ist es, befand der Verfassungsrat in seiner Entscheidung vom 9. August. Da Frankreich schon seit der Euroeinführung verpflichtet sei, die Stabilitätskriterien einzuhalten, sei die Souveränität Frankreichs durch den Fiskalpakt nicht weiter beeinträchtigt. Ein Problem mit der französischen Verfassung, so die Richter, könne allenfalls dann entstehen, wenn der Fiskalpakt Frankreich dazu zwinge, die Schuldenbremse tatsächlich in seiner Verfassung zu verankern. Aber das tue er nicht. Frankreich sei völkerrechtlich verpflichtet, die Schuldenbremse einzuführen und zu beachten, und die Verfassung selbst sage, dass der Gesetzgeber sich nicht ohne Weiteres von seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen lösen könne. Daher sei dagegen verfassungsrechtlich nichts einzuwenden.

    Aber selbst wenn der französische Verfassungsrat den Fiskalpakt für verfassungswidrig erklärt hätte, wären die Folgen womöglich viel weniger dramatisch gewesen als bei einem entsprechenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Denn normalerweise passt in einem solchen Fall der französische Gesetzgeber die Verfassung einfach an, um den Konflikt aus dem Weg zu räumen, erklärt der Europa-Rechtsexperte Jan Komárek:

    "So wie ich die Situation in Frankreich verstehe, würde die Feststellung eines Konflikts zwischen einem zu ratifizierenden EU-Vertrag und der französischen Verfassung dazu führen, dass die Verfassung geändert wird, und nicht den Erlass einer vollständig neuen Verfassung erfordern, wie das in Deutschland der Fall wäre."

    Anfang der neunziger Jahre beispielsweise kam der französische Verfassungsrat zu dem Schluss, dass der Maastricht-Vertrag in einigen Punkten nicht mit der Verfassung vereinbar war. Die Folge: Die Verfassung wurde geändert, und der Vertrag konnte in Kraft treten. Ähnliche Fälle gab es auch in anderen Ländern, erklärt der Rechtswissenschaftler Jan Komárek von der London School of Economics. In Polen beispielsweise:

    "Das war in einem Fall vor fünf Jahren, der den EU-Haftbefehl betraf, übrigens auch etwas, das vom deutschen Verfassungsgericht überprüft wurde. Das polnische Verfassungsgericht fand, dass der EU-Haftbefehl gegen die polnische Verfassung verstieß. Es sagte, dass es im Grunde drei Auswege aus diesem Konflikt gebe: Einer ist, die Verfassung zu ändern. Ein anderer ist, das Recht auf europäischer Ebene zu ändern. Und ein dritter ist, dass Polen die EU verlässt. Natürlich war die einzig realistische Option für Polen, die eigene Verfassung zu ändern. Und das ist dann auch geschehen."

    Warum spielt diese Option in Deutschland so gut wie nie eine Rolle?

    Ein Grund dafür liegt im Grundgesetz selbst: In Artikel 79 III, der sogenannten Ewigkeitsklausel, erklärt die deutsche Verfassung ihre eigenen grundlegenden Prinzipien für unantastbar. Selbst durch Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat können sie nicht geändert werden. In seiner Entscheidung zum Maastricht-Vertrag 1993 und noch deutlicher im Urteil zum Vertag von Lissabon 2009 hat das Bundesverfassungsgericht klargemacht, dass die Grenzen, die das Grundgesetz der europäischen Integration zieht, in dieser Weise unantastbar sind, weil sie das Demokratieprinzip betreffen.

    Wenn ein Konflikt entsteht, kann er somit nicht, wie in anderen Ländern üblich, durch eine Anpassung des Grundgesetzes aus der Welt geschafft werden. Das führt erstens dazu, dass es im Konfliktfall tatsächlich europapolitisch immer sofort um alles oder nichts geht. Und zweitens, dass das Bundesverfassungsgericht damit in die Rolle eines zentralen europapolitischen Akteurs rückt.

    In der Praxis hat das Bundesverfassungsgericht diese Rolle aber bisher stets so ausgefüllt, dass es zwar abstrakt allerlei Grenzen gezogen und Hürden errichtet hat, ohne aber je wirklich einen Konflikt mit dem Grundgesetz festzustellen. Bislang ist noch jeder Vertrag im Ergebnis von Karlsruhe gebilligt worden.

    Kritiker des Bundesverfassungsgerichts wie der Konstanzer Rechtsprofessor Christoph Schönberger beobachten, dass das Gericht zunehmend Schwierigkeiten hat, mit seiner zentralen europapolitischen Gestaltungsrolle zurechtzukommen, und sehen darin ein wachsendes Problem für die Autorität des Verfassungsgerichts selbst.

    "Hier geht es dann eigentlich nur noch darum, das institutionelle Problem des Bundesverfassungsgerichts zu lösen, aber nicht irgendeine in sich konsistente Position des Gerichts zur gesamten europäischen Integration zu entwickeln. Und da sehe ich die eigentlich große Gefahr. Dass das Gericht sich im Grunde verheddert, vielleicht noch in kleinen Vorbehalten, diese kleinen Vorbehalte dann symbolisch inszeniert, dass dann die entsprechenden europäischen Kritiker sagen, das Bundesverfassungsgericht habe aber deutlich Grenzen aufgezogen, und dass dann das Spiel wieder in die nächste Runde geht."

    Dazu kommt eine weitere Schwierigkeit: Gerichte sind im Normalfall dazu da, Fälle zu entscheiden – Streitigkeiten zwischen zwei Parteien um ihre jeweiligen Rechte. Ist ein Gericht tatsächlich geeignet und legitimiert, die Verantwortung dafür, wie Europa aussehen soll, auf die eigenen Schultern zu laden? Christoph Schönberger bezweifelt das:

    "Ich glaube, dass das Gericht keine Möglichkeit hat, letztlich in einer ernsthaften Form seine Vorbehalte zu operationalisieren, ich glaube auch nicht, dass das Gericht letztlich über die politische Legitimität verfügt. Man muss ja auch sehen – das ist die Besonderheit, die das Gericht in diesen Europa-Angelegenheiten hat gegenüber den normalen inneren Verhältnissen – dass es hier regelmäßig mit Entscheidungen konfrontiert wird, die Zweidrittelmehrheiten im Bundestag und Bundesrat mittragen. Und das ist ja doch eine andere Situation als die, die es häufig innenpolitisch vorfindet, wo es seine Aufgabe ja meist darin besteht, Lösungen, die eine Parlamentsmehrheit gefunden hat, möglicherweise konsensfähig zu machen auch über diese Parlamentsmehrheit hinaus, und wo es immer auch eine Opposition gibt, die möglicherweise auch einen Alternativentwurf verkörpert."

    Mit dem institutionellen Eigeninteresse des Bundesverfassungsgerichts und der Ewigkeitsklausel im Grundgesetz ist die besondere Rolle Karlsruhes in der Europapolitik aber noch nicht hinreichend erklärt. Dazu kommt eine Besonderheit in der politischen Kultur, in ihrem Verhältnis zur Politik einerseits und zum Verfassungsrecht andererseits, das die Deutschen von ihren Nachbarn unterscheidet.

    "Ich denke, dass sicherlich in sehr vielen Mitgliedsstaaten, das hängt auch sehr stark von ihrer Prägung ab, vielleicht auch der französische Rechtskreis, das französische Verständnis von Recht und Politik, das ist ja nicht nur in Frankreich, sind ja auch andere Mitgliedsstaaten, die so ticken dann, doch der Primat des Politischen höher ist, und deshalb diese starke Verrechtlichung, für die das Verfassungsgericht ja steht, mit einem Stirnrunzeln gesehen wird"

    , sagt Frank Schorkopf, Völker- und Europarechtsprofessor von der Universität Göttingen.

    "Ich habe das selbst mal erlebt, dass dann französische Juristen sagen: Wenn es einen politischen Konsens gibt, wo ist dann das Problem? Dann wird das Recht eben geändert und angepasst."

    In Deutschland ist man gewohnt, die Politik als ein Produkt der Verfassung zu sehen. In den meisten anderen Ländern ist es eher umgekehrt: Die Verfassung ist ein Produkt der Politik. Frank Schorkopf:

    "Ich glaube, dass wir gerade in dieser Krise erleben, dass hier vielleicht ein gewisser rechtskultureller Wandel, also ein ganz großer rechtskultureller Dissens zunächst mal da ist und dann aber auch ein Wandel eintritt, weg von diesem konstitutionellem Ansatz, die Verträge und das nationale Verfassungsrecht wirklich als eine geschriebene feste Verfassung zu sehen, hin zu einem Verständnis, was das Recht, die Verträge und das Nationale eher als einen Rahmen sieht, in dem Politik stattfindet, also dass da nur Leitplanken gezogen werden, in dem der politische Prozess moderiert wird."

    In den vergangenen 20 Jahren hat die Europa-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine enorme Ausstrahlungswirkung auf die Verfassungskulturen anderer EU-Länder entfaltet. Seine Formulierung von der "Verfassungsidentität" der Mitgliedsstaaten, die durch die europäische Einigung nicht beeinträchtigt werden dürfe, hat ihren Weg in viele Urteile anderer Verfassungsgerichte gefunden, vor allem in den ehemals kommunistischen Staaten im Osten.

    "Nur als demokratisch legitimierte Rechtsgemeinschaft hat Europa eine Zukunft",

    hat der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, betont. Aber kann das Gericht seine Rolle in diesen Fragen nach der heutigen Entscheidung aufrecht erhalten? Oder zeigt nicht gerade der Fall des ESM-Vertrags und des Fiskalpakts, dass sich die Gestaltung der Zukunft Europas doch nicht immer allein aus dem Grundgesetz ableiten lässt? Es bleibt abzuwarten, was die Exegese des heutigen Urteils dazu ergibt.