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Vorbilder, Schutzpatrone und Gelehrte
Formen der jüdischen Heiligenverehrung

Die jüdische Religion verbietet jegliche Anbetung von Heiligen. Offiziell dürfte es daher auch bei Juden keine Heiligenverehrung geben. Doch die Münchener Judaistik-Professorin Lucia Raspe hat bei ihrer Forschungsarbeit festgestellt, dass es auch im Judentum in gewisser Weise so etwas wie einen Heiligenkult gibt.

Von Alfried Schmitz | 10.07.2015
    Ein Davidstern über einer Synagoge
    Ein Davidstern über einer Synagoge (Picture Alliance / dpa / Jan Woitas)
    "Was unterscheidet die jüdische Hagiographie, die Heiligenverehrung, von der christlichen? Prinzipiell zunächst einmal das: Es soll sie nicht geben. Sie wird offiziell abgelehnt und sie hat sich aber dennoch Bahn gebrochen in verschiedenen Situationen, historisch an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Und das fand ich außerordentlich faszinierend."
    Während ihrer intensiven Forschungsarbeit zur jüdischen Heiligenverehrung stieß Lucia Raspe zunächst vor allem auf alte Handschriften, jüdische Erzählungen, Sagen und Legenden aus dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. Darin war von Protagonisten die Rede, die wie Heilige charakterisiert und beschrieben waren. Hatte sie Spuren einer jüdischen Heiligenverehrung entdeckt, die es eigentlich gar nicht geben durfte?
    In den Erzählungen ist zum Beispiel von den Regensburger Juden zu lesen, die ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einen gewissen Rabbi Amram um Beistand und Hilfe in Notsituationen anriefen. Sein Grab wurde damals sogar so etwas wie ein Wallfahrtsort für viele Juden aus der Regensburger Region.
    Eine andere Legende bildete sich um das Jahr 1000 um einen Schimon mit dem Beinamen "Der Große von Mainz". Ihn verehrten die Mainzer Juden, weil er angeblich nicht nur prophetische Gaben hatte, sondern sich damals auch erfolgreich gegen "antijüdische Maßnahmen" zur Wehr gesetzt und die Mainzer Juden vor Verfolgung und Vertreibung geschützt haben soll.
    Laut den Quellforschungen von Lucia Raspe wurden einige Juden aufgrund ihrer besonderen Verdienste oder Charaktereigenschaften besonders im Mittelalter zu Märtyrern, Wahrsagern und Nothelfern stilisiert und dementsprechend ver- und geehrt, was einem Heiligenkult gleichkommt, den man auch im Christentum in ähnlicher Form begegnet. Die Judastik-Professorin glaubt sogar, einen gewissen Nachahmeffekt entdeckt zu haben.
    "Es hat natürlich immer sehr viel mit der jeweiligen Umgebungskultur zu tun. Wenn Sie kleine jüdische Gemeinden in den deutschen Städten im Mittelalter haben, wo man Zeuge wird, dass es Heiligengräber gibt, dass es Reliquien gibt, dass es Wallfahrten gibt, dass Christen in großen Mengen zu solchen Wallfahrtsorten kommen, dass dort Heilungen stattfinden, dann ist es natürlich relativ naheliegend, dass man von jüdischer Seite, wo ja die Lebensbedingungen im Mittelalter nicht die einfachsten waren und im Laufe des Mittelalters auch zunehmend schwieriger werden, dass man sich sagt, das wäre doch schön, wenn wir das auch hätten. Und das kann man da und dort zeigen, dass es ein entsprechendes Bedürfnis gegeben hat und dass man sich ein bisschen auch von den Frömmigkeitsformen der eigenen Nachbarn hat inspirieren lassen."
    Heiligenverehrung als Trostspender gegen Unterdrückung
    Das Leben der Juden war damals alles andere als einfach. Sie hatten nicht nur mit den üblichen Alltagsproblemen der mittelalterlichen Gesellschaft, wie Krankheit, Hunger und finanzieller Not zu kämpfen, sondern litten zudem unter gesellschaftlicher Ächtung, der permanenten Unterdrückung ihrer Religion und der für sie äußerst unbefriedigenden politischen Machtverteilung im Reich und in den Städten. Juden waren unterpriviligiert und hatten kein wirkliches Mitspracherecht. Hagiographische Erzählungen und Heiligenverehrung wurden daher für sie zu Hilfsmitteln, um Trost und Hoffnung zu finden. Judaistik-Professorin Lucia Raspe hat bei ihren Untersuchungen herausgefunden, dass die Thorágelehrten durch ihre fundierten Kenntnisse auf dem Gebiet der religiösen Tradition in der jüdischen Heiligenverehrung eine ganz besondere Rolle spielten.
    "In den meisten Fällen sind es Gestalten, die wir aus der Literatur kennen, die wir wegen ihrer Werke kennen, die wir zum Beispiel in vielen Fällen kennen, weil sie liturgische Dichtungen für den synagogalen Gottesdienst verfasst haben und diese Helden der literarischen Überlieferungen, werden dann sekundär zu Helden narrativer Überlieferung. Und in einem weiteren Schritt dann tatsächlich zu Objekten und Helden von Heiligenverehrung."
    Vorbild Makkabäer-Aufstand
    Lucia Raspe hat aber nicht nur im Mittelalter Beweise dafür gefunden, dass es auch im jüdischen Glauben eine Form der Heiligenverehrung gab. Sie hat eine Spur entdeckt, die noch viel weiter zurückreicht, und zwar in die Spätantike, ins zweite vorchristliche Jahrhundert. Damals lehnten sich die Makkabäer als jüdische Freiheitskämpfer gegen die Unterdrückung durch das hellenistisch geprägte Herrscherhaus der Seleukiden auf. Als deren König Antiochus der Vierte ein strenges antijüdisches Religionsedikt erließ, dass die Juden zu heidnischen Opferritualen aufforderte, kam es zum blutigen Aufstand.
    "Die Makkabäer sind eigentlich die Prototypen der Märtyrer. Es wird ja in den Makkabäerbüchern erzählt, wie sie während der Religionsverfolgung unter den Seleukiden ihr Leben geopfert haben, um eben nicht die Gebote zu übertreten. Und wir haben Anhaltspunkte dafür, dass diese Märtyrer auch von jüdischer Seite verehrt worden sind. Sie sind dann Vorbilder, als es im Mittelalter dann wirklich zu großen, mörderischen Verfolgungen kommt, da kann man sich an diesen Vorbildern orientieren, um sich dann eben tatsächlich nicht dem Taufdruck zu ergeben, sondern sein Leben zu opfern."
    Der Makkabäer-Aufstand und das Phänomen, lieber für die eigene Religion zu sterben, als sie zu verraten, war später auch für die Christen ein Vorbild. In den ersten Jahrhunderten verehrten sie ausschließlich christliche Märtyrer als Heilige. Deren Grabstätten entwickelten sich zu Kultstätten und Wallfahrtsorten. Ähnliche Rituale hat Lucia Raspe bei ihrer Forschungsarbeit auch im Judentum entdeckt. Zu bestimmten wichtigen Tagen im jüdischen Jahr war es vor allem ab dem 14. Jahrhundert durchaus üblich, zu den Gräbern wichtiger Persönlichkeiten zu pilgern.
    "Das können große Gelehrte sein, das können die eigenen Vorfahren sein, das können auch Märtyrer sein, wenn man eine lokale Überlieferung hatte, dass es ein Massengrab von Opfern einer Verfolgung auf dem eigenen Friedhof gab, dann pilgerte man dort hin und betete an diesen Gräbern. Allerdings haben die Rabbiner dann immer eingeschärft und einschärfen müssen, dass man nicht zu diesen Begrabenen dort selbst beten durfte, sondern dass es nur darum ging, an ihren Gräbern zu beten, zu Gott zu beten, damit er, um der Verdienste derjenigen Willen, die da begraben waren, dann vielleicht dem eigenen Gebet, wohlgefälliger gegenübersteht."
    Dieser Gräber- und Totenkult hat sich, laut Lucia Raspe, vor allem im osteuropäischen Judentum bis heute erhalten. Und auch in den jüdischen Gemeinden im Orient und in Nordafrika ist er noch weit verbreitet. Sogar in Israel ist diese Art der Gräberwallfahrt überaus populär.Den Grund dafür sieht die Judaistik-Professorin bei den vielen Einwanderern, die aus den entsprechenden Gebieten nach Israel kommen und ihre Traditionen dorthin mitbringen. Ein Umstand, der zum Teil interessante Blüten treibt, wie Lucia Raspe bei ihrem Forschungsprojekt in Israel erfahren hat. Nicht selten kommt es vor, dass Einwanderer bei sich zuhause eine kleine Gedenkstätte für ihren persönlichen Heiligen einrichten, um ihn zu verehren.
    "Und dann wird die ganz, ganz breit angenommen und die Leute können sich vor Pilgern kaum noch retten. Solche "Verlegungen" von Gräbern, wenn Sie so wollen, haben wir in den letzten zehn, zwanzig Jahren mehrere gehabt und das zeigt natürlich auch sehr deutlich, dass die Einwanderer aus diesen Gruppen, die sich zu Recht als unterpreviligiert sehen in der israelischen Gesellschaft, dass sie so langsam anfangen, auf ihre eigene Weise eigentlich eine Heimat in Israel dann doch zu erobern."
    Diese neu auflebende Heiligenverehrung in Israel stößt allerdings nicht bei allen jüdischen Familien auf Verständnis. Viele reagieren empört auf diese neue Sitte, die ja eigentlich eine lange Geschichte hat.
    "Das ist primitv, das ist unjüdisch, damit haben wir nichts zu tun!"