Donnerstag, 28. März 2024

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Vorgezogene Wahlen in der Türkei
"Erdogan will den Schwung der Kriegseuphorie nutzen"

Die wirtschaftliche Lage in der Türkei führe bei Erdogan zu einer "gewissen Panik", sagte der Grünen-Politiker Cem Özdemir im Dlf. Darum wolle er mit der vorgezogenen Wahl die Militäroffensive in Afrin für sich nutzen. Man müsse sich darauf vorbereiten, dass der türkische Wahlkampf auch wieder nach Deutschland getragen werde.

Cem Özdemir im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 19.04.2018
    Der scheidende Grünen-Vorsitzende Özdemir beim Parteitag der Grünen in Hannover
    Cem Özdemir - lange Jahre Vorsitzender der Grünen, Außenpolitiker und nach wie vor Türkei-Kenner (dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Tobias Armbrüster: Können wir uns jetzt in den kommenden Wochen wieder einstellen auf Wahlkampfbesuche türkischer Politiker in deutschen Kongresshallen und in deutschen Vereinsheimen?
    Cem Özdemir: Davon muss man ausgehen, dass Herr Erdogan auch ein Interesse daran hat, die Stimmen von Deutsch-Türken zu bekommen, den Wahlkampf hier herzutragen. Aber er hat noch ein Interesse: Er hat auch ein Interesse daran, dass es zu einer permanenten Eskalation kommt. Er stilisiert sich gerne in die Opferrolle, um das innenpolitisch zu nutzen und die Opposition unter Druck zu setzen nach dem Motto: "Seht ihr! Diese westlichen Demokratien lassen mich nicht reden. Jetzt müsst ihr euch mit mir solidarisieren." Ich würde dringend dazu raten, dass man sich so schnell wie möglich vorbereitet darauf, gerne auch Regierung und Opposition zusammen. Aber das ist nichts, wo man die Kommunen alleine lassen darf. Vielleicht kann es sogar eine europäische Verständigung geben. Eine Linie muss sein: Wer hier reden möchte, der muss natürlich gewährleisten, dass es Sicherheit gibt auch für die Bevölkerung bei uns. Aber er muss vor allem auch faire Wahlen zulassen. Davon kann gegenwärtig keine Rede sein. Wie sieht es aus mit den Rechten der türkischen Opposition? Kann die dann auch auftreten? Da gibt es ein großes Fragezeichen, insbesondere bei der HDP, deren Spitze im Gefängnis sitzt.
    Armbrüster: Müssen wir denn nicht auch anerkennen hier aus deutscher Sicht, dass die Türkei tatsächlich massiv unter Druck steht mit einem riesigen Flüchtlingsproblem im eigenen Land und mit einem riesigen Krieg beim südlichen Nachbarn in Syrien, dass das ein Land ist, dessen politisches System und dessen politische Pläne man nicht unbedingt mit den Standards hier aus Deutschland messen kann?
    "Türkei eher Teil des Problems als Teil der Lösung"
    Özdemir: Bei den Flüchtlingen helfen wir zurecht. Das ist auch in Ordnung so, dass man den Nachbarländern Syriens hilft, wenn das Geld direkt bei den Flüchtlingen ankommt. Und was den Druck in Syrien angeht, da trägt die Türkei ja nun massiv dazu bei, indem sie sich ebenfalls dort beteiligt daran, dass die sowieso schwierige Situation noch schwieriger wird, indem es Binnenflüchtlinge gibt, die einheimische Bevölkerung vertrieben wird und es jetzt sogar Überlegungen aus der Türkei gibt, dass man Menschen umsiedelt dort, um den Bevölkerungsmix zu verändern. Da ist die Türkei eher Teil des Problems als Teil der Lösung.
    Armbrüster: Entschuldigen Sie, wenn ich Sie da unterbreche, Herr Özdemir, weil das ist ja ein Argument, was wir immer wieder hören. Aber was sollte man von der Türkei erwarten, dass das Land stillsteht, während an seiner Südgrenze dieser gewaltige Krieg tobt? Kann man das tatsächlich von einem Staat erwarten?
    Özdemir: Nein! Aber es sollte seine Einflussmöglichkeiten auf seinen, mittlerweile bedauerlicherweise engen Verbündeten Russland nutzen, um dafür zu sorgen, dass das Töten dort so schnell wie möglich endet, dass die Giftgas-Einsätze durch Assad unterlassen werden und dass es zu einer politischen Lösung kommt, die auch die Opposition mit einbezieht und die rechtsstaatlich wird. Das sollte die Türkei tun. Wir dürfen nicht vergessen: Die Türkei ist immer noch in erster Linie Mitglied der NATO und sie will in die Europäische Union, und bislang hat sie zumindest nicht gesagt, dass sie sich den GUS-Staaten anschließen möchte. Insofern erwarte ich auch von der Türkei, dass sie sich dort, wenn man dieses altmodische Wort noch verwenden darf, westlich verhält.
    Opposition treffen die Neuwahlen unvorbereitet
    Armbrüster: Jetzt sagen viele voraus, dass Präsident Erdogan auch diese Wahlen gewinnen wird, auch mit seiner Partei. Warum erkennen die Bürger in der Türkei das, was Sie sagen, nicht so?
    Özdemir: Na ja, wie sollen sie es denn hören? Wie sollen sie es sehen? Wie sollen sie davon lesen? Es gibt in der Türkei praktisch keinen einzigen Fernsehkanal mehr von nationaler Reichweite, der dort in die Netze eingespeist wird, der nicht auf irgendeine Art dem Erdogan-Imperium angehört. Die wenigen Kanäle, die es noch gab, die offiziell unabhängig waren von den Dogan-Medien, aber immerhin, wenn Erdogan jemand nicht gefiel, dann wurde der entlassen, weil der Verleger unter Druck gesetzt wurde, selbst dieser Verlag wird jetzt offiziell noch ins Erdogan-Reich einverleibt. Man sieht daran, Erdogan duldet keine kritische Berichterstattung. Das heißt, so ein Gespräch, wie wir zwei es gerade führen, geht mit Medien in der Türkei praktisch gar nicht mehr. Insofern kann man nicht wirklich von fairen Wahlen sprechen.
    Dann kommt noch dazu, dass es einen Ausnahmezustand gibt. Eine der Oppositionsparteien, die HDP, kann gerade dort, wo sie am stärksten ist, im Südosten, wo viele Kurden leben, gar nicht Wahlkampf machen. Ihre Spitze sitzt im Gefängnis, ihre Wahlkampfveranstaltungen werden nicht genehmigt. Bei der CHP kommt dazu, dass das Vorziehen des Wahltermins – so was macht man bei uns ja normalerweise im Konsens mit der Opposition – dazu geführt hat, dass sie noch nicht mal einen Kandidaten haben. Und eine neu gegründete Oppositionspartei, die sogenannte Gute Partei von Meral Aksener, die hätte natürlich auch noch gerne ein Jahr gewartet, um ihren Gründungsprozess zu intensivieren. Erdogan scheint offensichtlich große Eile notwendig zu haben. Die wirtschaftlichen Daten führen zu einer gewissen Panik. Darum will er jetzt den Schwung von Afrin, den Schwung der Kriegseuphorie im Lande nutzen für die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen.
    "Kritik nicht gegen die Türkei, sondern gegen Erdogan"
    Armbrüster: Kann das dann eine deutsche Strategie sein, den Druck auf die Türkei, auch diesen wirtschaftlichen Druck weiter aufrecht zu erhalten und so das Land quasi weiter abwärts zu schicken?
    Özdemir: Das ist eine sehr schwierige Frage, denn wir müssen immer deutlich machen, dass unsere Kritik sich nicht gegen die Türkei wendet, sondern gegen das Vorgehen von Präsident Erdogan. Das umzusetzen, ist sicherlich nicht einfach. Deshalb muss man sehr genau sein in der Wahl der Mittel. Deshalb habe ich ja gerade gesagt: Wenn es um die Frage geht Wahlkampf in Deutschland, würde ich immer konditionieren. Und was die Frage der Wirtschaft angeht, würde ich deutlich machen: Wer beispielsweise eine Erweiterung der Zollunion möchte und andere Dinge, die die Türkei ja dringend braucht, weil die Wirtschaft so desaströs dasteht, wie sie dasteht, der muss Gegenleistungen bringen. Und die Gegenleistungen, da ist die Währung Demokratie, da ist die Währung Menschenrechte, und da muss die Türkei liefern. Ohne das gibt es keinerlei Gegenleistung.
    "Erdogan braucht Arbeitsplätze, er braucht Investitionen"
    Armbrüster: Sehen Sie denn irgendwelche Anzeichen aus den vergangenen Jahren, dass das tatsächlich funktioniert? Ich frage das deshalb, weil viele Leute ja eher den Eindruck haben, dass die Fronten sich eigentlich nur immer weiter verhärten und Erdogan immer weiter geht auf diesem Kurs eines Quasi-Diktators.
    Özdemir: Das tut er zweifelsohne. Andererseits ist er pragmatisch genug zu wissen, dass er nicht alle Brücken abreißen lassen kann. Die Charme-Offensive in Richtung Westen, indem er seinen Schwiegersohn schickt mit Interviews jetzt und versucht, die Türkei quasi als Erdöl- und Gas-Hub für den Westen zu präsentieren, gehört da sicherlich dazu. Aber es gab ja auch schon mal den Versuch in Deutschland, zumindest in homöopathischen Dosen mal die Muskeln spielen zu lassen, und das hat gleich zu Reaktionen geführt, nämlich als in Deutschland ernsthaft diskutiert wurde in einem Fall, als die Türkei mal wieder mit einer der besonders absurden Terrorlisten um die Ecke kam, in der führende deutsche Unternehmen sich als Terrorunterstützer fanden. Da wurde in Deutschland über die Einschränkung der Hermes-Bürgschaften diskutiert für Exportinvestitionen der deutschen Wirtschaft. Das führte dazu, dass man innerhalb von 24 Stunden diese Terrorliste erst als nicht existent und, als das nicht mehr durchzuhalten war, als übereifrige Maßnahme eines Beamten dargestellt wurde, als ob in der Türkei ein Beamter sich trauen würde, ohne Erlaubnis von Erdogan so eine Liste zu erstellen. Das zeigt aber: Auf diesem Ohr hört die Türkei sehr gut, denn die Wirtschaft liegt danieder und Erdogan braucht Arbeitsplätze, er braucht Investitionen, damit die Leute bei der Stange bleiben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.