Freitag, 19. April 2024

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Vorlesungen von Jacques Derrida
Gedanken über Bestie und Souverän

Gegensätze haben den 2004 verstorbenen französischen Philosophen Jacques Derrida besonders beschäftigt: So etwa der zwischen der tierischen Bestie als Repräsentant von Animalität und Urnatur und dem Souverän als Verkörperung von menschlicher, ja übermenschlicher Überlegenheit. Seine Vorlesungen zu diesem Thema sind jetzt auf Deutsch erschienen.

Von Michael Wetzel | 18.04.2016
    Ein Mann steht mit Pferdemaske in der Großen Salzwüste in im US-Staat Utah.
    Mensch oder Tier? Die Grenzen scheinen manchmal zu verschwimmen. (imago/Mint Images)
    Schon zu Lebzeiten vermachte der 2004 verstorbene französische Philosoph Jacques Derrida sein Archiv der Universität von Irvine in Kalifornien. Den größten Teil der dort seit Mitte der Neunzigerjahre gesammelten Materialien machen die Aufzeichnungen zu den seit 1960 in Paris und seit 1968 an verschiedenen Universitäten der USA gehaltenen Seminaren aus. Der französische Titel Seminar ist dabei irreführend, entspricht er doch in der deutschen akademischen Tradition eher der Vorlesung, und Derrida war bekannt dafür, dass er all seine Vorlesungen verschriftlichte und nachträglich gewissenhaft redigierte. Die Rede ist von an die 14.000 Druckseiten, die der Pariser Hausverlag Derridas, die Editions Galilée, in Zusammenarbeit mit der Universität Irvine seit 2008 begonnen hat, in einer auf 43 Bände geplanten Edition herauszugeben.
    Auseinandersetzung mit der Tierhaftigkeit des Menschen
    Angefangen hat man mit der letzten Vorlesung von 2001 bis 2003, die dem spannenden Thema des Verhältnisses von Tier und Souverän gewidmet war. Die Entscheidung ist plausibel: Nicht nur wird der durch jähe Krankheit aus dem Leben gerissene Philosoph auf dem Höhepunkt seiner Denkentwicklung vorgestellt, sondern zugleich bietet sich die Möglichkeit, Derridas großes Thema der letzten Jahre, die Grenze zwischen Mensch und Tier, in Form einer sehr mündlich gehaltenen Seminararbeit zu vertiefen. Zuerst präsentiert in der Monografie "Das Tier, das also ich bin" (deutsch 2010 erschienen), zeigt Derrida in den Vorlesungen, wie tief ihn die Auseinandersetzung mit der Tierheit, genauer der Tierhaftigkeit des Menschen, der im Sinne des französischen Wortes "bête" gedachten Bestialität beschäftigt. Es bleibt aber eine kulturwissenschaftliche Analyse, die zwar am Rande die Frage nach dem Existenzrecht und der Anerkennung realer Tiere als Anderem unserer selbst berührt, im Wesentlichen jedoch den symbolischen, den emblematischen, letztlich den sprachlichen Repräsentanzen des Tieres oder gewisser Tiere folgt. Insofern stellt sich für die Übersetzung eine für Derridas Text allerdings nicht unübliche Schwierigkeit, wie man den vielfältigen Sprachspielen im Französischen zum Beispiel zwischen dem Tier als "bête", der Dummheit als "bêtise" oder der Bestialität gerecht werden kann, was schon beim Titel beginnt, der genauso gut lauten könnte: "Die Bestie und der Souverän".
    Souveränität als Form der Macht
    Aber wie kommt bei aller Faszination für die Frage nach dem Tier, der Bestie, der Bestialität das explizit politische Thema der Souveränität hier ins Spiel?
    Kenner des Derridaschen Denksystems sind durch diese zweite Ebene nicht überrascht. Derrida hat überhaupt in den letzten zwei Jahrzehnten seiner Entwicklung eine entschiedene politische Wende vollzogen, die sich Themen der Gastfreundschaft, der Gerechtigkeit, der Freund-Feind-Verhältnisse, der Marx-Rezeption und nicht zuletzt der Polemik von sogenannten "Schurkenstaaten" zuwandte. Die Frage des Souveräns, der Souveränität als Form der Macht, der Selbstbehauptung sowie der Absolutheit des Ausnahmezustandes stand dabei immer im Mittelpunkt. Doch wie lässt sich dieses eminent politische Thema mit dem des Tieres, mit den eher ethischen Aspekten der Anerkennung anderer biologischer oder zoologischer Lebensformen im Sinne einer Politik des Animalischen verbinden?
    Derrida gibt eine klare Antwort, indem er wieder einmal die von ihn geschätzte Formel der Spiegelbildlichkeit, der Doppelung bemüht: Die beiden Gegensätze - auf der eine Seite die tierische Bestie als Repräsentant von Animalität, Urnatur und in weiterer assoziativer Ableitung von Weiblichkeit sowie von sozialer, rassischer und moralischer Devianz, auf der anderen Seite der Souverän als Verkörperung von menschlicher, ja übermenschlicher Überlegenheit, von männlicher Dominanz und Normativität bis hin zu einer Göttlichkeit -, diese beiden einander scheinbar ausschließenden Gegensätze berühren sich im Moment ihrer Ausnahmeerscheinung, als Außenseiter der normalen Verhältnisse. Sie werden zu einem Paar, zu einer liaison dangereuse:
    "Das Tier und der Souverän, das Tier ist der Souverän, so würde sich unser Paar ankündigen, ein Paar, ein Duo, ein Duell gar; aber auch ein Bund, fast eine Vermählung, ..., die sie als zwei Spezies von radikal heterogenen Lebenden setzen, einander entgegensetzen oder nebeneinanderstellen würde – die eine unter-menschlich, die andere menschlich, sogar über-menschlich - ..., wobei der eine im anderen eine Art Double erkennen würde, der eine der andere werden, der andere sein würde (...), das Tier der Souverän und der Souverän das Tier sein würde .... in einem Tier-Werden des Souveräns oder einem Souverän-Werden des Tiers, wobei wiederum der Übergang vom einen zum anderen, die Analogie, die Ähnlichkeit, das Bündnis, die Vermählung davon abhängt, dass die beiden diese überaus einzigartige Position des Außerhalb-des-Gesetzes, Über-dem-Gesetz oder Abseits-vom-Gesetz teilen: das Tier, indem es das Gesetz nicht kennt, und der Souverän, indem er das Recht hat, das Gesetz zu suspendieren, sich über das Gesetz zu stellen, das er ist, das er macht, das er instituiert, über das er souverän entscheidet."
    Sinnbilder der Dekonstruktion
    Das Zitat vermag zugleich Einblick zu gewähren in die Denkweise Derridas, wie er sie in den Seminarsitzungen praktizierte. Es sind lange, parataktische Assoziationsketten, in denen er den Bedeutungshorizont der diskutierten Begriffe entfaltet, um deren Eindeutigkeit zu zerstreuen, oder wie der Fachbegriff Derridas lautet: zu dekonstruieren. Es ist eine langsame, behutsame Arbeit am Begriff und seinen idiomatischen Wendungen, die Derrida von Anfang an - dem Thema gerecht werdend - mit der Redewendung vom Schleichen auf leisen Wolfs-Sohlen assoziiert. So wird der Wolf zum emblematischen Tier der ganzen Vorlesung, zum Fabel-Tier par excellence, und der märchenhafte Wolf im Schafspelz gewissermaßen zum Sinnbild der Dekonstruktion. Aber er spielt auch seine Rolle als demaskierte Tiernatur des Menschen in dem auf Plautus zurückgehenden, durch Hobbes "Leviathan" aber populär gemachten Sprichwort vom Menschen, der dem anderen Menschen zum Wolf wird. Derrida greift diese Formel nicht zuletzt mit Blick auf Carl Schmitts Konzept der politischen Feindschaft auf, das viele Beispiele aufweist, den Gegner durch Tiervergleiche herabzuwürdigen. Neben dem Wolf spielen dabei unter anderen der Fuchs, der Löwe, die Schlange, als Gegenfiguren das Lamm und der Esel eine eminente Rolle. So kann im Sinne von Machiavellis Theorie vom Fürsten gezeigt werden, dass die Stärke des Wolfes der Klugheit des Fuchses bedarf, allein aber der Löwe die sprichwörtliche Position des Königs der Tiere einzunehmen vermag.
    Die Schwelle zwischen Tier und Souverän wird passierbar
    Über die ethische Diskussion hinaus um die Verbindung von Tierheit und Dummheit und umgekehrt gerade die Dummheit, auf der Souveränität basiert, thematisiert Derrida immer wieder auch Fragen der Technik, der Lebenstechnik, der politischen Bio-Technologie, die er anhand der Symbolik der Puppe oder der Marionette als Zwischenwesen von Menschlichem und Tierischem diskutiert. Und diese Dimension des automatenhaften, prothesenhaften Maschinellen führt ihn auch zu einer Dekonstruktion männlich-sexueller Souveränität im Mythos vom Phallus als Urtypus des den Menschen vom Tier unterscheidenden aufrechten Gangs. Nicht zuletzt in der subversiven Figur der Schlange wird dieses Machtsymbol wieder dekonstruiert: Die Schwelle zwischen dem Tier und dem Souverän wird passierbar gegen alle Abgrenzungsdiskurse. Wie zum Beispiel der des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan, der dem Tier zwar zugesteht, Spuren zu legen, aber der bezweifelt, dass das Tier Finten legen, also Spuren nur vortäuschen oder gar löschen kann. An dieser Stelle wird der späte Derrida noch einmal poststrukturalistisch deutlich, dass es nämlich nicht darum geht, eine Souveränität gegen eine andere auszutauschen, sondern dass die Spur gegen jeden Machtanspruch immun ist:
    "Es gehört zu einer Spur, sich stets zu löschen und sich stets löschen zu können. Dass sie aber sich löscht, ...,bedeutet nicht, dass irgendjemand, Gott, Mensch oder Tier ihr Herren-Subjekt wäre und über die Macht beziehungsweise das Vermögen vermögen würde, sie zu löschen. Im Gegenteil. In dieser Hinsicht besitzt der Mensch nicht mehr souveräne Macht, seine Spuren zu löschen, als das sogenannte Tier."
    Tiere sind also genauso abhängig von sozialen Strukturen wie der Mensch. Sie sind nicht nur domestizierbar, sondern passen sich künstlichen Umwelten wie den zoologischen Gärten als neue Heimat an, wie Derrida mit einem gewissen Bernhard Grzimek argumentiert. Überall zeigen sich Äquivalente, die Darwins Abstammungslehre über die Verwandtschaft mit dem Affen hinaus zu einem generellen Tier-Werden des Menschen ausweiten. Aber Derrida ist noch nicht am Ende. Für nächstes Jahr ist die Übersetzung des zweiten Bandes der Vorlesung angekündigt: Man darf gespannt sein.
    Jacques Derrida: "Das Tier und der Souverän", herausgegeben von Peter Engelmann, Michel Lisse, Marie-Luise Mallet, Ginette Michaud, aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, Passagen Verlag, Wien, 544 Seiten, 65 Euro