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Vorliebe für historisch Gewachsenes

Der Architekturhistoriker und Urbanist Vittorio Magnago Lampugnani kritisiert seit Jahren die mangelnde Verzahnung einzelner Bauprojekte mit stadtplanerischen Ansätzen. Nun legt er sein Opus Magnum vor, eine minutiöse Untersuchung über die letzten 100 Jahre Stadtgeschichte.

Von Christian Gampert | 08.12.2010
    Alexander Mitscherlich sprach schon 1965 von der Unwirtlichkeit unserer Städte, die keine Identität mehr stifteten. Der Architekturhistoriker Vittorio Magnano Lampugnani würde ihm grosso modo wohl kaum widersprechen. Lampugnani ist bekannt als scharfer Kritiker postmoderner Beliebigkeit - Städte wie London, die im Sinne eines architektonischen Originalitäts-Wettbewerbs ein skurriles Prunkstück an das andere reihen, sind ihm ein Graus.

    Lampugnani vertritt ein anderes Konzept: die von einem übergreifenden Gedanken geprägte, ihre Geschichte bewahrende Stadt.

    "Im Grunde sind meine Vorlieben alle dort, wo die Stadt, die historische Stadt, die gewachsene Stadt nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Sondern wo versucht wird, sie zu erneuern, aber behutsam zu erneuern, zu erhalten, zu verbessern."

    In fast 30-jähriger Forschungsarbeit hat Lampugnani die Entwurfs-Strategien und urbanen Modelle zusammengetragen, die für das 20. Jahrhundert prägend gewesen sind. Herausgekommen ist ein über 900-seitiges Kompendium, das zwar stark auf Europa und Amerika fokussiert ist, in seinem Detailreichtum aber seinesgleichen sucht.
    Lampugnani ist in seinen Beurteilungen hier viel zurückhaltender als sonst. Es gilt zunächst, die wesentlichen Linien der Stadtgeschichte nachzuzeichnen.

    Am einflussreichsten war zweifellos Ebenezer Howards Idee der Gartenstadt: Philanthropische Unternehmer hatten schon Ende des 19. Jahrhunderts Mustersiedlungen für "ihre" Arbeiter gebaut, und Howard entwickelte daraus ein Prinzip, das den Unterschied zwischen Stadt und Land nivellieren sollte. Spuren dieses Konzepts finden sich in Frank Lloyd Wrights verrückter Idee der "Broadacre City", aber auch in den Siedlungen der Bauhaus-Architekten. Allerdings sagt Lampugnani:

    "Sie sind nicht Modelle, die übertragbar sind, sie sind nicht Modelle, aus denen man allein eine Stadt bauen könnte."

    Der Autor interessiert sich mehr für die übergreifenden Ansätze: Für den urbanen Klassizismus der amerikanischen "City Beautiful"-Bewegung, die Anfang des 20.Jahrhunderts Städte wie Washington und Chicago mit großzügigen, axialen Anlagen -und Beaux-Arts-Gebäuden - versah. Für das Wien der Jahrhundertwende, das Camillo Sitte "ästhetisieren" wollte. Für die große, neusachliche Stadterweiterung des Hendrik Petrus Berlage in Amsterdam. Und für den Wolkenkratzer als "städtischen Baustein", der zwischen 1890 und 1940 New York völlig neu modellierte - bei optimaler Ausnutzung der Grundstücksfläche.

    In Berlin dagegen war bis in die 1920iger-Jahre durch rasanten Zuzug eine systematische Mietskasernen-Bebauung entstanden, nur teilweise aufgelockert durch Volksparks und Laubenkolonien. Lampugnani findet das gar nicht so schlecht:

    "Es ist gelungen, diese Ausweitung, diese Vergrößerung der Stadt doch in ganz vernünftige Bahnen zu lenken. Also ohne die Vorstädte, die wir heute kennen, ohne Suburbs, ohne Zwischenstädte, mit großen Stadterweiterungs-Projekten, die sehr schnell auch kritisiert wurden - Berlin als Mietskasernenstadt. Heute, im Rückblick, ist das eine großartige Leistung."

    Erstaunlich unbefangen nähert sich Lampugnani auch einem ideologischen Problem: der Indienstnahme der Architektur durch Sowjetunion und Faschismus. Dabei geht es ihm weniger um die größenbesessene Herrschaftsarchitektur in den Kapitalen als vielmehr um die kleinen italienischen Musterstädte, die unter Mussolini angelegt wurden:

    "Also zum Teil schaudern wir, zum Teil müssen wir wohl oder übel zugeben, dass einiges, was in dieser Zeit - oder unter diesen Regimes - entstanden ist, doch eine gewisse Qualität hat. Und das hat damit zu tun, dass Städtebau und Architektur natürlich ideologisch sind, aber nicht nur. Also sie gehen letztlich über die Ideologien hinaus. Und wenn Sie eine faschistische Gründungsstadt wie Sabaudia als Beispiel nehmen, und sich jenseits des unerfreulichen politischen Programms, das dahintersteht, einfach anschauen, wie diese Stadt funktioniert, wie die Räume zueinander gefügt sind, was für Ideen von Stadt dort auch zu einer Synthese gefunden haben, dann muss man sagen: das ist eines der ganz wichtigen und auch großen Beispiele des Städtebaus im 20.Jahrhundert."

    Anhand der Freizeitparks, die der New Yorker Stadtplaner Robert Moses in den 1920iger-Jahren in Long Island errichtete, erläutert Lampugnani eines der Hauptprobleme der modernen Stadt: den Verkehr. Moses hatte für die Erholungssuchenden riesige Ausfahrtsstraßen bauen lassen; und heute sind, auch wegen der Pendler, die amerikanischen Städte fest in den Klauen des Automobils. Lampugnani hält dagegen:

    "Ich glaube, das ist eine ganz falsche Vorstellung, dass man die Stadt, die moderne Stadt, die Stadt der Zukunft dem Auto anpassen muss. Man muss sie dem Menschen anpassen."

    Lampugnani favorisiert Leitbilder, wie sie seit den 1960iger-Jahren von dem italienischen Architekten Aldo Rossi vertreten wurden: die Stadt als "autonome Struktur von Geschichte", als authentisch gebliebene Mischung von zentral gelegenen Monumenten, öffentlichen Bauten und Wohngebieten. Im zweiten Band nämlich werden auch die uns zeitlich näheren Stadtkonzepte einer Kritik unterworfen.

    Schreckgespenst ist hier Le Corbusier mit seiner Tabula-Rasa-Strategie, mit der er das Zentrum von Paris plattmachen und durch überdimensionierte Hochhäuser in Parks ersetzen wollte. Und auch die postmodernen Ansätze kommen eher schlecht weg - also die englische "Archigram"-Gruppe mit ihren "Plug-in-Cities", Robert Venturis' "Learning from Las Vegas" und dergleichen. Noch schlimmer die Einzelkünstler: Gehry, Foster und Koolhaas mögen große architektonische Bildhauer sein - aber städtebauliche Sammelsurien erregen Lampugnanis Unwillen:

    "Heute denken die meisten Architekten nicht städtisch, sondern sie denken ein Objekt. Und zum Teil produzieren sie ja sehr schöne, interessante Objekte. Aber diese Objekte reden nicht mehr miteinander. Und wenn die Objekte, sprich die Architektur-Objekte, nicht mehr miteinander reden, dann kann auch keine Stadt entstehen."

    Deshalb ist der Masterplan das wichtigste. Am neuen, nach der Wende runderneuerten Berlin zum Beispiel hat Lampugnani manches auszusetzen, einzelne Gebäude gefallen ihm überhaupt nicht - aber das historische Straßenmuster wieder aufzunehmen, den alten Grundriss neu zu bebauen, das sei die richtige Entscheidung gewesen, meint er.

    Lampugnanis Buch ist, was die behandelten Themen anbetrifft, von enzyklopädischer Vollständigkeit; das macht die Lektüre bisweilen etwas schwierig. Die über 900 Seiten sind allerdings mit grandiosem und schwer auffindbarem Bildmaterial garniert und wunderbar umbrochen. Jedes der 28 überbordenden Kapitel kann auch als Einzel-Essay für sich bestehen, und vermutlich sind diese aus den Verlesungen einzelner Semester entstanden. Es sei dem Leser deshalb geraten, das Werk wie ein Handbuch zu benutzen - er wird über die sowjetische Architektur ebenso seriös informiert wie über den deutschen Nachkrieg, Brasilia, Mexiko oder skandinavische Projekte.

    Entscheidend bleibt bei all dem Lampugnanis Sehnsucht nach der Authentizität - eine städtebauliche Grundeinstellung, die auch bei der Darstellung der entlegendsten postmodernen Projekte mitschwingt:

    " Ich glaube, dass die Stadt, also die historische Stadt, ein unglaublich erfolgreiches Modell ist, und dass alle Versuche, eine grundlegende Alternative dazu zu entwickeln, gescheitert sind."

    Vittorio Magnano Lampugnani: Die Stadt im 20.Jahrhundert - Visionen, Entwürfe, Gebautes. Zwei Bände im Schmuckschuber. 960 Seiten mit 640 großteils farbigen Abbildungen. Wagenbach-Verlag Berlin. Subskriptionspreis (bis 31.Jan.2011): 98 Euro. Danach 124 Euro.