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Vorpommern
Stirbt das Dorf, leidet die Demokratie

Bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern erzielte die rechtspopulistische AfD Rekordergebnisse. Ein Warnsignal und ein Hilferuf. Denn manches Dorf hat noch nie einen Landespolitiker gesehen - und Dorfläden, Arztpraxen und Gasthäuser schließen. Wo die etablierten Parteien wegschauen, füllen andere das politische Vakuum.

Von Thilo Schmidt | 17.11.2016
    An einem leerstehenden Haus in Loitz (Mecklenburg-Vorpommern) steht der Schriftzug "Loitz braucht keine Asylanten".
    Haben Rechtspopulisten in strukturschwachen Regionen wie Vorpommern leichteres Spiel als in Städten? (picture alliance / ZB / Stefan Sauer)
    Blesewitz in Ostvorpommern. 230 Einwohner leben in der kleinen Gemeinde unweit von Anklam. Bei der Landtagswahl wählten zwei Drittel AfD oder NPD. Nein, hier gibt es keine völkischen Siedler und auch kein rechtes Schulungszentrum. Blesewitz ist einfach nur einer der vielen kleinen Orte, die politisch kaum noch stattfinden im Land, und die seit 1990 fast ihre komplette Infrastruktur verloren haben.

    Thielke: "Und dann war auch ein Konsum, eine Gemeindeschwester, das Gutshaus, was jetzt leer steht, hat damals die Poststelle gehabt, und eine Gaststätte und alles das ist jetzt verschwunden. Ist weg, weil keiner hier investiert. Und die Großparteien haben sich hier auch nie sehen lassen, die demokratischen Parteien. Und haben uns schlicht und einfach – so fühlen wir uns auch, als Bürger – vergessen, nicht mitgenommen", sagt ein älterer Bürger.
    Bürgermeister Frank Zibell ist kaum mehr als ein Konkursverwalter, selbst die Straßenbeleuchtung lässt er ab 22 Uhr abschalten. Im Dorfgemeinschaftshaus, gleich neben der kleinen, Jahrhunderte alten Dorfkirche, das einzige Angebot, das sich die Gemeinde noch leistet: der Jugendklub.

    Seelsorger Karl-Heinz Thielke und der Bürgermeister Frank Zibell vor der Dorfkirche von Blesewitz
    Seelsorger Karl-Heinz Thielke und der Bürgermeister Frank Zibell vor der Dorfkirche von Blesewitz (Thilo Schmidt)
    Zibell: "Der Gemeinschaftssinn hier, in diesem Gebäude hier, was hier entstanden ist, das ist respektabel. Und auch so gut gelaufen, dass man hier eigentlich stolz drauf sein kann. Das sind wir auch. Wir sind im Umkreis von 30 Kilometern die Einzigen, die noch einen Jugendklub haben."
    Keine Kneipe - mehr Wählerstimmen für die NPD
    Die Kinder, sagt die Jugendklubleiterin, eine Minijobberin, kommen aus den Nachbardörfern mit den Rädern in den Jugendklub – noch, denn Blesewitz soll nun mit anderen kleinen Gemeinden fusionieren. Dafür, sagt der Bürgermeister, solle er in Vorleistung gehen und schon mal den Jugendklub schließen.
    In Greifswald sind vergangene Woche die Landräte und Bürgermeister Vorpommerns zusammengekommen – unter dem Motto: "Man muss Vorpommern nach vorne haben wollen". Sie fordern nicht nur einen Regionalfonds für Vorpommern, sondern vor allem: Dass Politik vor Ort wieder gestalten kann. Greifswalds grüner Bürgermeister Stefan Fassbinder.

    "Einige Bürgermeister haben gesagt: Ich bin jetzt soundsoviele Jahre alt, ich trete dann nicht mehr an. Ich habe aber keine Ahnung, oder sogar die Befürchtung, es wird keinen Nachfolger geben, weil keiner mehr Lust hat, sich das anzutun. Und da hab ich auch als Vertreter einer großen Stadt großes Verständnis für diese Haltung. Und das ist eine große Gefahr, die wir da auch haben. Durch den Zusammenbruch der Strukturen mangels Möglichkeit, was zu gestalten. Jemand, der sich in die Politik einbringt, möchte nicht nur zusammenstreichen."
    Zu lange hat man aus Schwerin nur zugesehen, wie die Demokratie ausblutete im strukturschwachen, entvölkerten, östlichen Landesteil, und wie andere Kräfte das Vakuum systematisch füllten. Ein Rechtsextremismus-Experte aus der Region hat recherchiert, dass die Wählerstimmen für die NPD in jenen Orten stiegen, in denen die Dorfkneipe dicht machte. Es ist nicht nur Geld, das fehlt, sondern alles das, was die Dörfer lebenswert macht.
    Ralf Drescher, Landrat des Kreises Vorpommern-Rügen:"Es gibt ja sogar Leute, die denken, man muss Dörfer schleifen. Und das sind also aberwitzige Ideen. Wir müssen uns dazu bekennen: Wir haben eine ländliche Struktur, eine dezentrale Struktur. So ist die Siedlungsstruktur hier immer gewesen, und so wird sie aus meiner Sicht auch bleiben müssen."
    In der Greifswalder Studentenkneipe "Ravic" hat Patrick Dahlemann bis vor wenigen Jahren als Student noch die Nächte durchgemacht. Jetzt ist er noch mal zu Gast in der dunklen Spelunke, in Anzug und Krawatte. Dahlemann ist im neuen Kabinett Parlamentarischer Staatssekretär für Vorpommern. In Schwerin hat man das Warnsignal gehört und diesen Posten geschaffen. Der Amtssitz: Nicht die Landeshauptstadt, sondern Anklam in Ostvorpommern.

    Dahlemann: "Ich bin ja nicht derjenige, der vom Kabinettstisch aus den Vorpommern erzählt, wie der Hase läuft. Sondern ich bin der aus Vorpommern am Kabinettstisch sitzt. Und deshalb betrachte ich das für Vorpommern als eine sehr, sehr große Chance und diesen Spagat zwischen – da kommt übrigens noch eine Ebene dazu. Dieser Spagat zwischen Landtag, Landesregierung und aber eben auch kommunale Familie - ich bleibe Kreistagsmitglied und Stadtvertreter - finde ich einen ganz wichtigen. Weil ich die Entscheidungen der jeweils unterschiedlichen Ebene auch bewerten kann und einschätzen kann, welche Auswirkungen es für die nächst andere hat. Damit auch eine engere Vernetzung insgesamt entsteht."
    Den Menschen Angebote machen, damit sie bleiben
    Der 28-jährige Sozialdemokrat ist für sein Engagement gegen Rechtsextremismus und für Flüchtlinge bundesweit bekannt. Bei der Landtagswahl im September verteidigte er seinen Wahlkreis - mit politischer Graswurzelarbeit inmitten einer Hochburg der AfD. Was er als Staatssekretär zu tun hat, weiß er sehr genau.
    Dahlemann: "Sämtliche Wege sind neu zu denken. Es kann ein Bürgerbus sein. Wir haben positive Erfahrungen mit den multiplen Häusern, in denen der Arztbesuch, der Bäcker und die Physiotherapie unter einem Dach zusammenkommen, und das am Ende ein Haus der Gemeinde ist, wo man sich auch trifft. Um in unseren kleinsten Gemeinden, eben zwei, drei, vierhundert Einwohner – in meinem Wahlkreis gibt es fünf Häuser davon – wie wir dort den Menschen ein Angebot schaffen können, dass sie in ihrem Dorf bleiben!"
    Ein Multiples Haus – auch für die Blesewitzer ein Weg? Die verlangen Grundsätzliches:
    Zibell:" …und da setz ich das Zeichen, dass die Politik sich da Gedanken machen muss, wie sie uns mitnimmt, auf ihrer Reise, wenn sie der Meinung ist, sie will für alle Bürger auch Gleiches tun, dann sollten sie daran denken, dass hier auch noch Menschen leben und uns nicht alleine lassen."
    Thielke: "Sonst fällt irgendwas zusammen und die Demokratie kriegt an dieser Stelle einen Bruch."