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Vorsichtig und defensiv

Da rückt ein Nachgeborener eine wichtige Figur im intellektuellen Nachkriegsdeutschland zurecht, entidealisiert sie, ohne dabei jemals den Versuch zu machen, sie zu demontieren. Und dennoch provoziert er ein betretenes Schweigen. Nur wenige Rezensionen sind bisher erschienen und das Buch ist schon seit Monaten auf dem Markt. Die psychoanalytische Community äußerte sich bisher gar nicht. Und auch der einzige frühere Biograph aus den 80er Jahren bekannte lediglich, er müsse "manche Urteile" revidieren, ohne zu sagen welche. Der junge Wissenschaftshistoriker Martin Dehli hat eine Biographie über Alexander Mitscherlich geschrieben. Der Psychoanalytiker hatte entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Psychoanalyse in Deutschland nach 1945 durchgesetzt hat. Er hat das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt begründet. Und er hat wichtige Anstöße für eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit geliefert.

Von Thomas Kleinspehn | 14.06.2007
    Zumindest die Titel seiner Bücher zur "Unfähigkeit zu trauern" und zur "Vaterlosen Gesellschaft" stehen dafür, gegen Verdrängung und Verleugnung anzugehen. Nun wird dieser Sozialpsychologe und emsige Wissenschaftsorganisator ein wenig zurechtgestutzt. Doch Dehli ist kein Zertrümmerer. Er hat lediglich nach dem Verdrängten und Geschönten gefragt. Und das hat er unter anderem bei der Psychoanalyse gelernt. Dabei ist er auf Spuren in der Biographie und im Wirken Alexander Mitscherlichs gestoßen, die das Bild ein bisschen verändern und einiges anders gewichten.

    "Was ich zeigen wollte, ist, dass es neben diesem Neuanfang auch Kontinuitäten gibt … Alexander Mitscherlich verwendet Argumente, die schon 1920 in einem anti-modernistischen Kontext verwendet wurden … Und mich interessiert, wie solche Kontinuitäten in einer neuen Situation eine neue Bedeutung erlangen… Alexander Mitscherlich wurde ja wahrgenommen als eine Leitfigur der bundesrepublikanischen Linken, als so eine mahnende Stimme der bundesrepublikanischen Linken, aber die gleiche Kulturkritik findet man auch in Schriften aus den 1930er Jahren, als er dem Kreis um Ernst Jünger, dem nationalrevolutionären Kreis angehört.""

    Hier passen dann Mitscherlichs Sympathie für Vertreter der "Konservativen Revolution", wie Jünger oder Ernst Niekisch mit der Anthropologie eines Viktor von Weizsäcker zusammen. Dieser war für Mitscherlich in den 30er Jahren ein Vorbild und gilt als Mitbegründer der Psychosomatik nach 1945. Weizsäcker entwarf jedoch noch Mitte der dreißiger Jahre eine Sozialpolitik, die durchaus Ideen von Selektion und Vernichtung enthielt. Die Entscheidung darüber müsse nur von einem Arzt getroffen werden und sich damit vermeintlich an ärztlicher Ethik ausrichten.

    Damit hoffte Weizsäcker lange Zeit, sein Programm in die nationalsozialistische Gesundheitspolitik integrieren zu können. Mitscherlich promoviert bei von Weizsäcker. Er übernimmt zwar nicht in allem dessen Anthropologie, aber noch 1943 bleibt er befangen in der Vorstellung vom Menschen, der gleichsam von der Moderne entstellt und außer Kontrolle geraten sei und nun durch Medizin und Psychotherapie wieder auf den "rechten Weg" gebracht werden müsse. Davon emanzipiert sich der spätere Psychoanalytiker zwar noch vor 1945. Doch die "Stunde Null" ist für ihn auch ein Kampf und ein Lernprozess. Er ist gerade nicht die Figur, die vom Nationalsozialismus gänzlich unberührt, in der Nachkriegszeit heroisch über allem steht.

    ""Vielleicht kann man es auch mit einem Schlagwort sagen. Es ist jetzt keine Stunde Null-Biographie, sondern eine Biographie die zeigt, wie er auf die Katastrophen der deutschen Geschichte versucht hat zu reagieren, wie er seine eigenen Positionen neu überdacht hat. Meiner Ansicht nach wird er dadurch eine sehr viel dynamischere Persönlichkeit als das Bild Alexander Mitscherlichs, das bisher tradiert wurde, dass er eigentlich aus einer Art Charaktermaske bestand, wenn man von ihm spricht als dem Gewissen der Bundesrepublik Deutschland."

    Denn als "Charaktermaske" schwebt Mitscherlich über den Dingen, ist unangreifbar. An keiner Stelle seines Buches legt Dehli nahe, der Psychotherapeut sei Täter gewesen. Dennoch arbeitete der junge Alexander Mitscherlich seit den frühen dreißiger Jahren als Buchhändler und Verleger in Ernst Niekischs "Widerstandsverlag" mit. Niekisch verstand sich als Nationalbolschewist und geriet in Schwierigkeiten, weil er die Nationalsozialisten von rechts kritisierte. Mitscherlich gehörte als junger Erwachsener einige Jahre diesem Kreis an. Und beteiligte sich unter anderem auch an der Störung einer Veranstaltung von Thomas Mann. Mitarbeiter des "Widerstandsverlages" wurden 1937 verhaftet, als der Freiburger Medizinstudent Alexander Mitscherlich eher zufällig in Zürich war.

    Hier schrieb er sich in Medizin ein. In Verkennung der Lage oder aus Naivität fährt er jedoch schon im Dezember 1937 nach Deutschland zurück, wo er sofort von der Gestapo verhaftet und zu Niekisch und den anderen der Gruppe nach Nürnberg ins Untersuchungsgefängnis gebracht wird. Dort blieb er drei Monate inhaftiert. In seiner Autobiographie verlängert der spätere Psychoanalytiker diese Zeit nicht nur um fünf Monate, sondern stilisiert sich auch als Oppositioneller. Damit legt er nahe, er sei Gegner des Nationalsozialismus gewesen. Doch das stimmt nur in eingeschränktem Maße. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis studierte er weiter Medizin und fand in der neurologischen Abteilung in Heidelberg bei Viktor von Weizsäcker "einen geschützten Raum", wie Dehli formuliert. Das verhinderte auch, dass er zur Wehrmacht eingezogen wurde.

    Zu all dem steht Alexander Mitscherlich später nicht mehr, sondern versucht die Spuren zu verwischen. Vor allem, dass er sich erst ganz allmählich von einer der modernen Zivilisation gegenüber skeptischen Haltung abgewandt und vorsichtig der Psychoanalyse zugewandt hat. In den späten 40er Jahren bewegt sich Mitscherlich noch immer im Schatten seines nur teilweise "geläuterten" Lehrers Weizsäcker. Und hier hält Martin Dehli doch seinen Finger in die noch immer vorhandene Wunde: Denn, so lautet seine These, Mitscherlichs Verleugnung hat eine Diskussion über die Kontinuitäten und Brüche einer Psychoanalyse erschwert, die während des Nationalsozialismus keineswegs komplett aus Deutschland verschwunden war. Das könnte auch erklären, warum nach 1945 die ersten Psychoanalytischen Institute in der Bundesrepublik nicht nur von Gegnern des Nationalsozialismus bevölkert wurden, sondern auch von Mitläufern. Eine Auseinandersetzung damit fand erst sehr verspätet statt. Das verwundert nicht grundsätzlich, wohl aber bei einer Profession, für die Trauerarbeit auch bedeuten müsste, sich auf Konflikte einzulassen.

    "Alexander Mitscherlichs Leistungen für den Neuaufbau der Psychoanalyse in Deutschland lassen sich nicht leugnen… Seine Zeitschrift Die Psyche besteht weiterhin und hat ungemein dazu beigetragen, dass es zu einer breiten Rezeption der Psychoanalyse in Deutschland gekommen ist. Seine wissenschaftlichen Leistungen treten demgegenüber zurück… Aber die Wissenschaft lebt davon, dass sie wirklich auch realisiert wird, dass sie organisiert wird. Und Mitscherlich war unglaublich in diesem Bereich."

    Die Kehrseite dieser wissenschaftspolitischen Stärke ist eine eher normative Anthropologie, die sich zwar in der Nachkriegszeit verändert, die sich aber dennoch von den 30er Jahren bis zu den Büchern durchzieht, die ihn bekannt gemacht haben. So baut Mitscherlich etwa seine Massenpsychologie auf der normativen Frage auf, "was denn tolerabel und was denn erträglich" sei. Dehli begeht kein Sakrileg, wenn er in seinem Buch Mitscherlich eher als konservativen Psychotherapeuten skizziert. Und es ist sicher kein Zufall, dass die von Mitscherlich begründete Zeitschrift "Psyche", die Dehli ganz ungebrochen lobt, ihre eigentliche Öffnung erst nach dem Tod ihres Begründers erfährt. Erst dann greift sie auch andere Theorierichtungen auf. Erst dann beschäftigen sich dort auch Psychoanalytiker mit der Vergangenheit ihrer Zunft. All das kann man aus Dehlis gut geschriebener und fundierter Biographie entnehmen. Deutlich ist er allerdings mehr an dem Werk, denn an der Person interessiert.

    "Alexander Mitscherlich hat sein Leben 'Ein Leben für die Psychoanalyse' genannt. D.h. seine Lebensgeschichte über die Wissenschaft definiert, die er dann später auch ausgeübt hat und an dieser Stelle zu sehen, wie so ein Selbstbild praktisch zusammengeht mit dem Aufbau einer Wissenschaft, an der Alexander Mitscherlich beteiligt war. Das war sehr faszinierend."

    Man könnte sich allerdings bei solcher Faszination auch fragen, ob hier nicht die Wurzeln dafür liegen, dass das Buch doch sehr vorsichtig und defensiv geschrieben ist. Manchmal scheint es so als lasse sich Dehli teilweise noch immer von den Verklärungen einschüchtern, die von Mitscherlich, der sich zeitlebens eine eigenen Psychotherapie verweigert hat, selbst ausgingen. Immerhin legt er bisher verborgene Zusammenhänge offen. Es bleibt abzuwarten, ob sein Buch aufgegriffen und das peinliche Schweigen durchbrochen wird. Sein Buch, aber auch die Psychoanalyse selbst hätte es verdient.