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Vorstoß ins Nordpolarmeer

Polarforschung. - Die Meereisdecke im Nordpolarmeer ist in diesem Jahr wieder auf ein Minimum abgeschmolzen. Je wärmer es in der Arktis wird, umso interessierter sind Reedereien, Ö- und Gasindustrie und nicht zuletzt die Tourismusbranche an der Erschließung des Polarmeers. Doch die Gefahren sind nicht zu unterschätzen, wie auf der Internationalen Konferenz für Naturkatastrophen und -risiken in Davos zur Sprache kam.

Von Volker Mrasek | 31.08.2012
    16. September 1989. Das russische Kreuzfahrtschiff Maxim Gorki ist im Nordpolarmeer unterwegs, mit 950 Menschen an Bord. Es geht auf Mitternacht zu, als der Dampfer mit voller Fahrt in eine große Packeisscholle rauscht. Wasser dringt ein, das Schiff beginnt abzusacken. Was dann passiert, schildert Ove Tobias Gudmestad, Professor für Marine Technologie an der Universität Stavangar in Norwegen:

    "Der Kapitän wies die Leute an, die Rettungsboote zu besteigen. Ein Unglück mit vielen Toten, weitab von jedem Land, schien möglich. Doch zufällig war ein Schiff der norwegischen Küstenwache in der Nähe und fischte die Leute auf. Am Ende haben alle noch mal Glück gehabt."

    Solche kritischen Situationen könnten sich in Zukunft häufen. Von Jahr zu Jahr schrumpft die Meereisfläche in der Arktis stärker zusammen. Gerade erst meldete das Nationale Schnee-und Eisdatenzentrum der USA einen neuen Rekord-Minuswert. Bald könnte das Nordpolarmeer im Sommer völlig eisfrei sein - vielleicht schon 2030, wie Klimamodelle andeuten. Was das zur Folge hat, ist klar. Gudmestad:

    "Es gibt ein großes kommerzielles Interesse am Nordpolarmeer. Es besteht die Chance auf eine neue und viel kürzere Schifffahrtsroute zwischen Europa und Japan. Die Öl- und Gasindustrie möchte Vorkommen erschließen, die bisher unzugänglich waren. Auf die Fischerei warten besonders reiche Fanggründe. Und die Tourismus-Industrie hofft auf ein neues, exotisches Reiseziel für ihre Kunden."

    Auf der Konferenz in Davos warnte Ole Tobias Gudmestad jetzt vor den Gefahren des Vorstoßes ins raue Nordpolarmeer. Der norwegische Forscher mahnte eine besondere Infrastruktur für Rettungseinsätze fernab der Küste an. Um zum Beispiel bei einem Unfall auf einer Bohrinsel weit draußen im Arktischen Ozean auch wirklich Hilfe leisten zu können, seien spezielle Vorposten auf See nötig:

    "Wir müssen sicherstellen, daß Rettungshubschrauber die Strecke bis zu einer Bohrinsel so weit draußen schaffen und mit Evakuierten an Bord dann auch wieder zurückfliegen können. Dafür müssen wir unter Umständen ständige Rettungsposten auf See einrichten, auf halber Strecke zwischen einer Bohrinsel und dem Festland. Dort könnten die Hubschrauber dann auftanken, gerettete Personen absetzen und wieder umkehren, um noch mehr Leute von der Bohrinsel aufzunehmen."

    Auch die Schifffahrt im Arktischen Ozean birgt große Risiken. Um sie abzuschätzen, studierte Gudmestad noch einmal Berichte über frühere Unglücke im hohen Norden:

    "Es gibt dort Unfälle, die sich nirgendwo sonst ereignen. Und zwar dann, wenn der Wind sehr stark und die Wellen sehr hoch sind, was nicht selten vorkommt. Dann wird Gischt aufgewirbelt, landet auf dem Deck und gefriert dort zu Eis. Diese Eiskruste kann so dick und so schwer werden, daß das Schiff dadurch seine Stabilität verliert."

    Auch auf diese Gefahr müsse man sich einstellen, wenn es in Zukunft eine Route für Handelsschiffe durch das Nordmeer geben sollte, so der norwegische Experte. Von künftigen Kreuzfahrten zum eisfreien Nordpol hält Gudmestad gar nichts. Das Risiko sei einfach zu groß:

    "Ein Kreuzfahrtschiff, das mit 2000 Menschen an Bord ins Packeis kracht und sinkt – das wäre für uns der größte Alptraum in der Arktis."